22 Keine Schuld

„Niemand hat Schuld. Niemand!“ (EinspirituellerLehrer)

„Besser auf neuen Wegen etwas stolpern, als in alten Pfaden auf der Stelle zu treten.“ (ChinesischeWeisheit)

Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Artikels:

Aufgrund der Tatsache der engen und intensiven Verbundenheit von Körper, Geist und Seele wird der Gedanke vertreten, dass uns dieses Wissen ein Mehr an Einfluss, aber auch mehr Verantwortung für uns selbst und unsere Gesundheit verleiht. Im Zusammenhang mit dieser Zunahme an Einfluss und Verantwortung werden sechs mögliche Fehlschlüsse bzw. Missverständnisse diskutiert, die problematische und schädliche Folgen haben könnten. Festhalten an der Spaltung, Krankheit als Schuld, Krankheit als Versagen, Krankheit ausschließlich verstanden als Schicksal oder Pech, Selbsthilfe als Hybris oder Grandiosität, völlige Abgabe der Verantwortung an Experten.

In der neuen Sichtweise der unauflöslichen Verbundenheit von seelischen/geistigen und körperlichen Prozessen haben wir als denkende, fühlende und handelnde Wesen offenbar etwas mit unserer mehr oder minder gesunden körperlichen Verfasstheit zu tun. Wenn das, was wir bewusst oder unbewusst fühlen und denken, sich so unmittelbar in unsere Physiologie hinein übersetzt, wie das die aktuelle Forschung belegt, dann scheint mir das zunächst durchaus beunruhigend. Denn das bedeutet, dass Menschen offenkundig ihrer Gesundheit schaden können, wenn sie an negativen Gedanken festhalten, die zu Angst und Stress führen oder sie unbewusst von alten Programmen gesteuert werden, die immer wieder in negative Gedanken und selbstzerstörerische Gewohnheiten und Verhaltensweisen münden.

Andrerseits bedeuten diese Erkenntnisse aber auch, dass wir vielfältige neue und noch ungenutzte Möglichkeiten haben, selbst etwas für unser Wohlbefinden und unsere Gesundheit tun zu können. Die in Text 21: ‚Ganzheit verstehen‘ referierten Forschungsergebnisse legen nahe, dass wir über die Arbeit an unserem Lebensstil, unseren Denkmustern, Überzeugungen und Einstellungen und durch die positive Gestaltung unseres innerseelischen und innerkörperlichen wie auch unseres zwischenmenschlichen Milieus über beträchtliche zusätzliche Gesundheitspotentiale verfügen.

Das neue Denkmodell wirft einige Fragen auf, für die es meines Erachtens keine einfachen Antworten gibt, z.B. die unangenehme Frage, inwieweit wir selbst an der Entstehung unserer Krankheits­symp­tome mitbeteiligt sind. Oder liegt es nicht doch allein an schädlichen Genprogrammen oder äußeren Faktoren wie Krankheitserregern (Viren, Bakterien etc.), Giftstoffen in der Umwelt, Radioaktivität, ‚toxischen‘ Beziehungspartnern und ähnlichem?

Sicher ist, dass wir mit unserem Geist Einfluss auf den Körper ausüben. Unsicher jedoch ist, wie weit der Einfluss unseres Denkens, Fühlens und Handelns tatsächlich reicht. Gilt hier auch: Nichts ist unmöglich? Wie groß ist die tatsächliche Macht unseres Denkens, Fühlens und Handelns auf unseren Körper? Können wir uns gleichsam gesund denken?

Diese Fragen lassen sich nicht generell beantworten, weil jeder Mensch anders ist. Betrachten wir das an einem Beispiel, das von einem Heilungsverlauf berichtet, der sich dem medizinischen Verstehen entzieht. Eckart von Hirschhausen erzählt, dass ihm der Freiburger Onkologieprofessor Dr. Clemens Unger von einem erstaunlichen Fall berichtet habe. Die Patientin habe an einem fortgeschrittenen Tumor der Gebärmutter gelitten, einem metastasierten Endometriumsarkom. Gebärmutter und Eierstöcke seien operativ entfernt worden, doch sei das ganze Bauchfell voller Metastasen und auch die Leber befallen gewesen, beides inoperabel. Prof. Unger habe ihr zur Stärkung des Immunsystems einen Bakterienextrakt verschrieben und sie gebeten, in 2 Monaten wiederzukommen, was sie auch getan habe. Bei dieser Untersuchung habe Unger keinerlei Lebermetastasen mehr feststellen können und auch die verklebten Lymphknoten im Bauchraum seien nicht mehr nachweisbar gewesen. Prof. Unger sagte Hirschhausen, dass er keine medizinisch stichhaltige Erklärung dafür habe. Die Frau habe ihm erzählt, dass sie jeden Abend so gebetet habe: „Tumor, ich habe dich nicht eingeladen, ich bitte dich, meinen Körper zu verlassen.“ Der Tumor sei bis heute nicht wiedergekommen. Und das liege nun schon 12 Jahre zurück. (Hirschhausen, 46). Offenbar ist also für manche Menschen tatsächlich nichts unmöglich.

Kann man deshalb erwarten, dass der nächste Krebskranke, dem man dieses Gebet ans Herz legt, auch eine solche Heilung erfährt? Natürlich nicht. Obwohl es auch keineswegs ausgeschlossen ist. Menschen sind unterschiedlich. Was für den einen ein machtvoller Gedanke ist, der tatsächlich Berge versetzen kann, bedeutet einem anderen rein gar nichts.

Spontanremissionen von als unheilbar eingestuften Erkrankungen sind möglich, geschehen aber selten. Carlyle Hirshberg und Brendan O’Regan haben eine Online-Datenbank zusammengestellt, die als ‚Spontaneous Remission Project‘ der Untersuchung der Spontanheilung gewidmet ist. In dieser Datenbank seien laut Dr. Lissa Rankin (53) etwa 3500 Fälle aufgelistet, in denen es zur Spontanheilung – beispielsweise bei einer HIV-Erkrankung, Brustkrebs, Aneurysma im Gehirn, Plaque in den Herzkranzgefäßen etc. (ebd.) – gekommen sei. Weil Spontanremissionen bei jeder Erkrankung beobachtet wurden, die als unheilbar eingestuft wurden, verbietet es sich übrigens, Patienten mit der Rede von der Unheilbarkeit ihrer Krankheit zu verängstigen und zu lähmen. Spontanheilung kann immer geschehen, selbst wenn die Wahrscheinlichkeit dafür gering oder auch sehr gering ist.

Ein Aspekt scheint bei all diesen Menschen, die eine Spontanheilung erlebt haben, gemeinsam zu sein: Sie übernahmen Verantwortung für ihre Erkrankung und redeten ein Wörtchen mit. Ich werde das weiter unten vertiefen.

Die Frage nach unserer Mitbeteiligung an der Entstehung von Symptomen möchte ich zum Anlass nehmen, meinen Standpunkt darzulegen. Aufgrund der überwältigenden Belege für die enge und intensive Verflochtenheit von Körper und Geist scheint mir die Auffassung unabweisbar, dass wir in einer bestimmten Weise an der Entstehung und Aufrechterhaltung unserer Symptomatiken beteiligt sind. Eine Erkrankung haben wir selbstverständlich bewusst nicht beabsichtigt noch willentlich erschaffen. Es scheint mir jedoch durchaus plausibel, anzunehmen, dass wir auf eine weitgehend unbewusste Art und Weise unsere Symptomatiken selbst miterschaffen haben und sie durch das Wirken automatisierter unbewusster Prozesse aufrechterhalten. Das heißt wohlgemerkt nicht, dass wir in irgendeiner sinnvollen Weise schuld sind an unseren Symptomen. Das ist äußerst wichtig und ich werde das unten noch ausführlicher begründen.

Unsere Symptome und Erkrankungen haben mit unwillkürlich in uns ablaufenden Prozessen zu tun. Weil sich diese Prozesse zumeist der bewussten Wahrnehmung und der willent­lichen Kontrolle entziehen, bedarf es einiger Anstrengungen, um Einfluss darauf zu gewinnen. Und nicht selten bleiben jene Prozesse, die unsere Pathologie aufrechterhalten, außerhalb der Einflusssphäre unserer salutogenetischen Bemühungen.

Dennoch scheint mir der große Vorzug dieser Auffassung, wenn sie differenziert verstanden ist, dass sie uns die prinzipielle Möglichkeit und Macht zugesteht, selbst etwas für die Veränderung unserer Symptome tun zu können.

Es gibt ernstzunehmende Gründe, dieser Sicht mit Skepsis und kritischer Wachsamkeit zu begegnen. Allzu leicht lässt sich dieser Standpunkt in der politischen Debatte einsetzen, um den wertvollen Solidargedanken zu schwächen, der dem System unserer gesetzlichen Krankenversicherungen zugrunde liegt. Und überhaupt scheint der Gedanke des Eigenanteils an den eigenen Symptomen wenig attraktiv zu sein. Dieser Ansatz bürdet uns eine individuelle Teilhabe an unserer Gesundheit auf, die uns in vielerlei Hinsicht überfordern mag. Es ist nur also allzu verständlich, wenn das Denkmodell auch erhebliche Widerstände aktiviert. Daher ist es gut, sich mögliche problematische Gedanken und Kritikpunkte gegen diese Sichtweise sehr genau anzuschauen, weil ein leichtfertiger und unachtsamer Umgang mit diesem mehr Schaden als Nutzen bringen kann.  (Und diesen Aufsatz hier verstehe ich als tastenden und sehr unvollständigen Versuch, einige Gedanken zu diesem höchst komplexen Thema zu formulieren.)

Viele Menschen haben sehr darunter gelitten, wenn ihnen von anderen leichtfertig gesagt wurde, sie selbst würden ja ihre Symptome und Krankheiten machen und sie selbst könnten sie auch beseitigen. Solche Kommentare sind dumm und wirken oft arrogant, kalt und herzlos. Ganz richtig werden sie als Mangel an Empathie und Mitgefühl, als Schuldzuweisung und Verurteilung erlebt. Das sind Erfahrungen, die sich wieder höchst destruktiv auf das innerseelische Milieu des Betroffenen – mitsamt den zugehörigen Folgen für seine körperliche Verfassung – auswirken können. (Es sei denn, man folgt Eckart von Hirschhausens nicht ganz ernst gemeintem Rat und versetzt der Person, die einen in selbstgerechter Weise darüber belehrt hat, dass man die Krankheit ja selbst angezogen habe, einen wohlgezielten Faustschlag. Nicht ohne zu ergänzen, dass man sich frage, ob die andere Person es vielleicht karmisch so gewollt hätte, diesen Faustschlag jetzt anzuziehen (vgl. Hirschhausen, 249)).

Die zentrale Herausforderung bleibt jedoch, dass uns intellektuelle Redlichkeit im Lichte der neueren wissenschaftlichen Entdeckungen dazu zwingt, das alte Modell der Getrenntheit von Körper und Seele/Geist aufzugeben. Auch wenn wir nicht wissen, wo groß die Macht unseres Geistes über unseren Körper und umgekehrt im Einzelfall tatsächlich ist, so können wir am alten Denken nicht mehr festhalten, ebenso wenig wie wir noch an der Auffassung festhalten können, dass die Erde eine Scheibe sei.

Im Folgenden will ich das Gesagte vertiefen und auf sechs mögliche Problemfelder bzw. Missver­ständ­nisse oder gedankliche Irrwege eingehen, die das neue ganzheitliche Selbstverständnismit sich bringen könnte und sie auf ihre Bedeutsamkeit hin untersuchen bzw. Vorschläge machen, welche konstruktiven Gedanken und Erkenntnisse helfen könnten, schädliche Fehlschlüsse zu vermeiden.

 

Missverständnis Nr. 1: ‚Körper und Geist haben nichts miteinander zu tun.‘

Der Gedanke der Getrenntheit von Körper und Geist ist ein nur noch historisch zu verstehender Irrglaube, der sich nicht mit den wissenschaftlich erhärteten Tatsachen deckt. Er ist schlicht nicht wahr. Doch auch wenn der Gedanke der Getrenntheit von Körper und Geist offenkundig falsch ist, mag es dennoch nachvollziehbare Gründe geben, in altem Denken zu verharren und sich gegen das neue Denkmodell zu wehren.

Das eine ist die Frage nach dem Wahrheitscharakter eines Denkmodells. Eine ganz andere Frage ist die nach der Nützlichkeit dieses Denkmodells. Zuweilen mag es so sein, dass eine Illusion uns weitertragen mag als dies eine schmerzliche Wahrheit vermöchte. Auch wenn ich der Überzeugung bin, dass es letztlich die Wahrheit ist, die uns heilt, so gilt es doch zweifellos anzuerkennen, dass eine Illusion großen Nutzen haben kann. Roberto Benigni hat das in seinem Film „Das Leben ist schön“ exemplarisch vorgeführt: Aufgrund seiner jüdischen Vorfahren landet der Filmheld zusammen mit seinem etwa 6-jährigen Sohn während der Nazizeit in einem Konzentrationslager. Um sein Kind vor der grausamen Wahrheit zu bewahren, deutet der Vater die Situation zu einem Abenteuerspiel mit strengen Regeln um, in dem der Sieger am Ende einen Panzer gewinnen könne. Dieser Bedeutungsrahmen hilft dem Jungen sehr, die Zeit im KZ recht unbeschadet zu überstehen.

Es mag gute Gründe geben, am alten Denkmodell festzuhalten.

Ein Grund dürfte schlicht die Vertrautheit mit dem alten Modell und ein daraus resultierender Mangel an Vorstellungskraft sein. Das uns seit dem 17. Jahrhundert so selbstverständlich gewordene Denken im althergebrachten medizinischen Modell beruht auf den Schriften des Philosophen Rene Descartes, der uns Menschen in eine res extensa, also eine ‚ausgedehnte Substanz‘ (Materie) und eine res cogitans, eine ‚denkende Substanz‘ (Geist) aufgespalten hat. Beide Substanzen hätten laut Descartes kaum etwas miteinander zu tun. Sie seien nur über die Zirbeldrüse miteinander in einem gewissen Austausch.

Dieses Denken hat zweifellos seine Vorzüge. Es macht es uns sehr leicht, eine innere Distanz und eine Haltung der Unbezogenheit zu unserem Körper mitsamt seinen Symptomen einzunehmen. Wenn wir über einen Körper verfügen, der als ‚ausgedehnte Substanz‘ unabhängig von uns operiert, dann haben die Erkrankungen dieses Körpers nichts mit unserem Geist zu tun. Wir haben keine Verantwortung dafür; es ist Pech, Schicksal, göttliche Strafe, Automatismus von Genprogrammen oder was auch immer. Der Gedanke, selbst etwas mit der Erkrankung oder dem Körpersymptom zu tun zu haben, scheint da zunächst sehr viel unangenehmer und kränkender zu sein.

Mir scheint es so, dass wir in der Regel geradezu durchtränkt sind von dem alten Denkmodell der Getrenntheit von Körper und Geist. Und weil das so ist, können wir uns vielleicht tatsächlich nicht vorstellen, dass ein organisches Problem etwas mit uns selbst, mit unserer Arbeit, unseren Beziehungen und unseren Gefühlen darin, unseren Einstellungen, Verhaltensweisen, unserer Lebensorientierung oder unserem Selbstbild zu tun haben könnte. Viele Menschen mit einer ausgeprägten Tendenz hin zu psychosomatischen Symptomen neigen stark zu dieser Sichtweise.

Doch wie wir es auch drehen und wenden: Das alte Denkmodell deckt sich einfach nicht mit den überwältigenden Belegen, die darauf hindeuten, dass wir immer auch an den Hervorbringungen unseres Körpers beteiligt sind. Unsere geistig-seelischen Aspekte gestalten unser Körpermilieu und unser Erleben in jedem gegebenen Lebensmoment mit. (In meinem Aufsatz zur Psychosomatik habe ich bereits ausführlich dargelegt, dass all die oben genannten Aspekte sehr wohl einen Einfluss auf unsere Gesundheit oder Krankheit haben.) Unser inneres psychovegetatives Milieu bestimmt, wie unsere Körperzellen funktionieren. Die Art und Weise unserer Genexpression hängt davon ab. Der Zellbiologe Bruce Lipton, ein Pionier der Epigenetik, sagt es so: „Zellfunktionen … (werden) … hauptsächlich durch ihre Interaktion mit ihrer Umgebung gesteuert und nicht durch ihren genetischen Code.“ (Lipton (2007), 84).

Das neue Denkmodell konstatiert, dass bei den allermeisten Symptomatiken sehr viele Ebenen beteiligt sind. In jede Erkrankung fließen in dieser Sichtweise intraindividuelle vital-energetische, physiologische, emotionale, kognitiv-geistige und spirituelle Aspekte in je eigener Mischungsform ein. Es geht über das biopsychosoziale Modell hinaus, indem es energetische und spirituelle Prozesse miteinbezieht. Dazu kommt der jeweilige geschichtliche, gesellschaftliche, soziale, kulturelle und religiöse Kontext, in dem jemand lebt. Auch dieser Kontext bestimmt mit, welche Krankheiten häufig auftreten, was wir als krankheitswertiges Symptom erleben, was wir überhaupt als Krankheit definieren und wie wir sie behandeln.

In diesem Modell repräsentiert ein Symptom also gleichsam ein Amalgam verschiedenster Faktoren und Wirkebenen, die alle in je eigenem Mischungsverhältnis zusammenarbeiten, um ein bestimmtes symptomatisches Phänomen hervor zu bringen. Nicht die körperliche Ebene allein, sondern auch die anderen nichtmateriellen Faktoren wie beispielsweise Gefühle, Einstellungen, Gedanken und Glaubenssysteme leisten ihren Beitrag zur Hervorbringung eines Symptoms, der häufig stärker ist als die Wirkkraft der materiellen Ebene.

Schließen wir dieses Kapitel mit zwei weiteren Argumenten für die Gültigkeit des neuen Denkens, die sich aus den Wirkungen von chronischem Stress sowie von Einsamkeit und psychosozialer Einsamkeit ergeben.

Chronischer Stress wird heutzutage als einer der wichtigsten, wenn nicht der wichtigste Faktor für das Entstehen der meisten Krankheiten angenommen. Wie viel Stress wir in uns erlauben oder wie entspannt und gelassen wir sind, hat stets einen direkten Einfluss auf unsere Körperphysiologie. Die Forschung hat uns in jüngster Zeit immer deutlicher gezeigt, wie günstig sich Entspannung des Geistes auf unsere Gesundheit auswirken kann. Dem Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ (Heft 21 vom 18.05.13) war das sogar eine Titelgeschichte wert, in der er darüber berichtet, dass der „heilende Geist“ sich in der Medizin zunehmender Aufmerksamkeit und Anerkennung erfreut. Der Wert regelmäßiger Meditation, von Entspannung und innerer Gelassenheit wird darin ebenso hervorgehoben wie die positiven Auswirkungen von Lebensbejahung und Optimismus auf unsere zu erwartenden Lebensjahre. Der Autor des Artikels, Jörg Blech, zitiert darin zustimmend Schiller: „Es ist der Geist, der sich den Körper baut.“ Körper und Geist kommunizierten permanent über Schnittstellen miteinander, etwa den Vagus Nerv des parasympathischen Systems, das vor allem für Entspannung und Regeneration zuständig ist.

Statistisch gesehen bringt uns das psychosoziale Erleben andauernder Einsamkeit und Isolation, also eines Gefühls, schneller ins Grab als das der tatkräftige Missbrauch von Alkohol, also einer materiellen Substanz, zu tun vermöchte (vgl. Rankin 2016). Umgekehrt vermag das Gefühl der Verbundenheit und Zugehörigkeit zu einer intakten Gemeinschaft ungleich mehr für die Gesundheit unseres Herz-Kreislaufsystems zu tun als dies Betablocker oder andere Herzmedikamente je könnten. (Vgl. Rankin, 136 ff)

Berühmt geworden ist zum Beispiel das kleine Städtchen Roseto im amerikanischen Bundesstaat Pennsylvania. Es fiel Forschern dadurch auf, dass die Herzinfarktrate der Männer unter 65 Jahren dort bei nahezu Null lag. Überhaupt waren die Zahlen für Herzerkrankungen dort weit unterdurchschnittlich. Das rief ein Forscherteam um Prof. Dr. Stewart Wolf von der University of Oklahoma auf den Plan. Sie fanden Erstaunliches: „Wir haben keine Selbstmorde, keinen Alkoholismus, keine Drogenabhängigkeit und kaum Verbrechen gefunden. Niemand hat Sozialhilfe bezogen. Niemand hatte Magengeschwüre. Die Leute sind an Altersschwäche gestorben. Das wars.“ Das berichtete der Soziologe John Bruhn, der Mitglied des Forschungsteams war (vgl. Rankin, 138f) Die Forscher überprüften viele Hypothesen zur Erklärung der außergewöhnlichen Gesundheit der Roseter: Gesunde Ernährung, geographische oder klimatische Besonderheiten, besonders gute Gene oder die Qualität der Gesundheitsversorgung. Doch die Daten bestätigten keine einzige dieser Vermutungen. Zum Bespiel schien die Ernährungsweise in dem Städtchen ausgesprochen ungesund; 41 Prozent der Kalorienzufuhr habe aus Fett bestanden. Die meisten Roseter hätten geraucht und Übergewicht sei weit verbreitet gewesen. Nachdem er alle anderen Hypothesen verwerfen musste, kam Wolf letztendlich zu dem Schluss, dass „eine solidarische, eng geknüpfte Gemeinschaft“ der entscheidende Gesundheitsfaktor war. Dr. Wolf habe laut Rankin folgendes Fazit seiner Roseto-Forschungen gezogen: Wer in eine solidarische Gemeinschaft eingebunden ist, der entspannt sich und wer entspannt ist beugt damit vielen Krankheiten vor (ebd. 139).

 

Missverständnis Nr. 2: ‚Wenn ich meine Symptome selbst mache, dann klingt das so, als wäre ich schuld an meinen Krankheiten.‘

Vielleicht wehrt sich etwas in uns gegen den Gedanken eigener Teilhabe am Symptom, weil es sich einem anklagenden Vorwurf ausgesetzt fühlt, dann sei man ja selbst schuld an seinen Symptomen und Krankheiten? Bei allen Vorträgen, die den Gedanken eines eigenen Anteils für die eigenen Symptome ansprechen, taucht als eine der ersten Wortmeldungen aus dem Publikum die Klage auf, man sei dann ja schuld an seiner Krankheit. Das sei psychisch sehr belastend und das könne der Referent doch nicht ernsthaft meinen!

Dieser Einwand ist sehr wichtig und bedarf der gründlichen Erörterung. Denn Schuldzu­weisungen wären in der Tat das Letzte, das jemand brauchen kann, der gerade mit einer Krankheitsdiagnose konfrontiert ist. Menschen, die an einer Krankheit leiden, brauchen Freundlichkeit, tätige Fürsorge, Entlastung, Mitgefühl, Ermutigung, Trost und Zuspruch. All das kann helfen, die ‚Übergangskrise‘, als die man Krankheit auch betrachten kann, hin zur Heilung zu durchschreiten. Schuldzuweisungen sind dabei nur hinderlich. Sie können – selbst dann, wenn sie gar nicht vorhanden sind und vom Erkrankten nur vermutet werden – zu Schuldgefühlen führen. Und Schuldgefühle mit all ihren Selbstanklagen und Selbstverurteilungen sind in der Tat geeignet, uns zu bedrücken, so dass unsere Not, die durch unser Leiden an unserer Symptomatik entstanden ist, noch zusätzlich erschwert würde.

In einem Vortrag über Psychosomatik hörte ich den großen Familien­therapeuten und Heidelberger Professor Helm Stierlin einmal Schiller zitieren: „Der Übel größtes aber ist die Schuld.“ Stierlin meinte, dass es falsch und von Übel sei, im Zusammenhang mit Krankheits­symptomen überhaupt den Begriff der Schuld zu verwenden. Das schade nur und nütze keinem.

Stierlin hat völlig recht. Es ist unsinnig, den Begriff Schuld in diesem Zusammenhang zu gebrauchen. Schuld ist ein Begriff, der mit der Verletzung ethisch-moralischer Normen zu tun hat und sowohl eigene Macht bzw. Kontrolle über eine Situation als auch eine Absicht oder zumindest mehr oder minder grobe Fahrlässigkeit, wie etwa bei durch Alkoholabusus verursachten Unfällen voraussetzt. Das macht im Zusammenhang mit Symptomen und Krankheiten einfach keinen Sinn. Insofern ist es gut, in diesem Kontext ganz auf den Gedanken und die Rede von Schuld als völlig unangemessen und untauglich zu verzichten.

Die Alltagssprache ist hier sehr ungenau. Wenn Menschen davon sprechen, dass sie an etwas schuld seien, dann meinen sie in den meisten Fällen nicht das bewusste Verletzen moralischer Normen. In der Regel beziehen sie sich dabei auf einen Fehler oder eine Unachtsamkeit, die ihnen unterlaufen ist. Vermutlich beschreibt die Aussage, dass ein Mensch verantwortlich für ein bestimmtes Geschehen ist, den Sachverhalt in der Mehrzahl der Fälle sehr viel zutreffender als das die Redewendung, es sei seine Schuld, vermag. Wenn Menschen sagen, dass sie an etwas schuld seien, meinen sie sehr oft, dass sie dafür Verantwortung tragen, dass etwas schief gegangen ist.

Es ist offenkundig so, dass unser Gesundheitsverhalten geeignet ist, uns zu nutzen oder zu schaden. Und hier liegt tatsächlich ein Stück unserer Verantwortlichkeit. Wenn wir sämtliche Empfehlungen für ein gesundes Leben links liegen lassen und bekanntermaßen ungesunden Gewohnheiten frönen, dann erhöhen wir die Wahrscheinlichkeiten für Symptome und Erkrankungen. (Das gilt sicher auch für das Gegenteil: Wenn wir in zwanghafter Weise alles Ungesunde aus unserem Leben verbannen wollen und uns sklavisch an rigide äußere Gesundheitsegeln halten, ohne sie mit unserem intuitiven Wissen in Einklang zu bringen, dann könnte auch dieses Verhalten zu Symptomen führen.) Jedes Verhalten hat seine Auswirkungen.

Doch bei der Bewertung individueller Verantwortlichkeiten, sollten wir stets berücksichtigen, dass unser Dasein in historische und gesellschaftliche Verhältnisse eingebettet ist, deren Wirkungsmacht uns oft verborgen bleibt. Spätestens seit Sigmund Freud wissen wir, dass sehr vieles in uns sich unserer Bewusstheit entzieht und unbewusste Kräfte unser Leben sehr viel mehr bestimmen, als unser rationaler Verstand das glauben mag. Belege dafür sehe ich tagtäglich in meiner psychotherapeutischen Praxis.

Aus der systemischen orientierten Familientherapie, deren prominenter Vertreter Stierlin war, kommt der starke Glaube an eine Mehr­generationen­perspektive für die Entstehung unserer Symptome. Der Grundgedanke ist, dass die unerledig­ten Geschäfte und ungeheilten Wunden unserer Vorfahren unsere Symptome mit erschaf­fen haben, indem sie gleichsam als in sich geschlossene und fest verschnürte Körpergeistaffekt-Pakete unbewusst über Genera­tionen hinweg weiter transportiert wurden. Unsere Symptome bewahren in dieser Sicht ein unverstandenes und ungeheiltes Erbe unserer Ahnen auf. Als gegenwärtiger Endpunkt dieser Ahnenreihe sind wir damit nicht nur der bewusste Erbe der materiellen Güter unserer Vorfahren, sondern auch der zunächst völlig unbewusste Erbe ihrer unerlösten Konflikte und ungeheilten und spannungsvollen Psycho- und Affektdynamiken. Trifft dieses Denkmodell zu – und mir scheint sehr viel für diese Sichtweise zu sprechen – so sind wir am Ort unserer Krankheits­symptome zunächst auch Opfer unserer historisch und gesellschaftlich vermittelten familiären Vermächtnisse und die Rede von individueller persönlicher Schuld erscheint somit gänzlich unsinnig.

Wie bereits erwähnt, ist es so, dass unsere Persönlichkeitsorganisation bis hin zur Formierung unseres Körpers vor allem ein Ergebnis unserer frühen Erfahrungs- und Austauschprozesse mit unserer mitmenschlichen Umwelt ist. Wir sind in einem familiären oder anderen mitmenschlichen System so geworden, wie wir sind. Dieses äußere Milieu hat unseren Körper, unsere Emotionen, unser Denken, unsere Überzeugungen und unsere Aktivitätsmuster mit geformt, die unsere Anfälligkeiten für bestimmte Symptome verringern oder erhöhen.  So ist etwa die Erfahrung von Verlassenheit und Einsamkeit, wie bereits erwähnt, ohne jeden Zweifel ein starker Krankheitsfaktor. Frühkindliche Vernachlässigung scheint sich dabei im Hinblick auf psychische Störungen sogar noch schlimmer auszuwirken als Traumata wie sexueller Missbrauch oder körperliche Misshandlungen (Vgl. Bartens (2012)).

Sind wir nun in irgendeinem sinnvollen Sinne schuld an den sozialen Bedingungen, die wir vorgefunden haben, in denen wir herangewachsen sind und als Kinder in nur sehr geringem Maße selbst gestalten konnten? Nein, sicher nicht. Aber wir haben selbstverständlich damit zu tun. Wenn meine Eltern Alkoholiker oder drogenabhängig oder Verbrecher oder sonst was waren, so bin ich nicht schuld daran; wohl aber kann das massive Auswirkungen auf mich haben und mit diesen habe ich, ob ich das will oder ob nicht, sehr wohl zu tun.

Es liegt an uns, das uns bestimmende Feld unbewusster Kräfte allmählich mit größerer Bewusstheit zu durchdringen. Die konstruktive Frage, die uns aus unserem ursprünglichen Opfersein herausführen kann, ist: Welche bewusste Antwort wollen wir geben auf die auf die Probleme (und eventuell zu Krankheiten disponierenden Faktoren), die wir in der Beziehung zu unseren Eltern oder anderen wichtigen nahen Personen mitbekommen haben? Mit unserer Entscheidung, uns diesen Fragen bewusst zu stellen, beginnen wir den Prozess, erwachsen zu werden. Und erwachsen zu sein bedeutet letztlich, verantwortlich zu sein für die förderlichen oder belastenden Umstände, die den Rahmen für unser Gesund- oder Kranksein definieren.

 

Schuld und Verantwortung

Sehr viel sinnvoller und nützlicher als den Gebrauch des Gedankens der Schuld ist es, den Begriff ‚Verantwortung’ in einem ganz spezifischen Sinne zu verwenden. Der Begriff enthält das Wort „Antwort“, gerade so, als bedeute verantwortliches Handeln, in jeder gegebenen Situation eine Antwort zu finden auf die Fragen und Herausforderungen, die diese Lebenssituation an uns stellt. Betrachtet man das englische Wort für Verantwortung, also: responsibility, wird der Zusammenhang noch deutlicher: Verantwortung erscheint hier als unsere Fähigkeit (ability), eine Antwort (response) zu geben. (Deepak Chopra (1998) verdanke ich diese schöne Einsicht.)

Eine Antwort ist zu unterscheiden von einer bloß automatischen Reaktion auf einen gegebenen Reiz. Denn eine Antwort setzt zum ersten die Bereitschaft voraus, die Situation überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, sie zweitens als erst einmal gegeben anzuerkennen und drittens über sie bewusst zu reflektieren und sein Selbst (Geist, Seele, Körper) zu befragen, wie man sich zu dieser Situation verhalten mag.

‚Verantwortung’ heißt nicht, dass ich ursächlich eine Situation hervorgebracht habe, obwohl es natürlich sein kann, dass mein unkluges oder unachtsames Verhalten viel zur Entstehung einer problematischen Situation beigetragen hat. Sollte letzteres der Fall sein, ist es gut, den eigenen Anteil zu erkennen und mögliche Handlungsalternativen zu bedenken. Und wenn irgend möglich, wäre es gut, an dieser Stelle auf nutzlose und schädliche Selbstanklagen und Verurteilungen zu verzichten.

Wer bin ich denn, schon im Vorhinein all die Konsequenzen meiner Handlungen zu erkennen? Manches mag einfach vorherzusagen sein: Wenn ich mich ausschließlich von Fast-Food ernähre, wird mein Gewicht sich irgendwann erhöhen. Wenn ich mich körperlich gar nicht bewege, ist die Wahrscheinlichkeit ebenfalls höher, dass ich zunehme und dass dieses zusätzliche Gewicht meiner Gesundheit abträglich ist. Wenn ich rauche, so wird das aller Wahrscheinlichkeit nach meine Lebensspanne verringern. Wenn ich in einer ungeliebten Arbeitssituation ausharre und nichts zu einer äußeren oder inneren Veränderung der Lage unternehme, dann wird das meinen Stresspegel sicher nicht senken. Wenn ich in einer Beziehung zu einem Partner oder einer Partnerin verharre, in dem ich andauernd Kränkungen erlebe oder meine Vitalität verkümmert, dann schadet das meinem Wohlgefühl und damit mittelfristig meiner Gesundheit.

Viele Lebensentscheidungen sind aber zunächst in ihren Auswirkungen gar nicht absehbar. Wie wird sich etwa die Tatsache auf meine Gesundheit auswirken, dass ich diesen Beruf gewählt, diesen Mann bzw. diese Frau geheiratet, diese finanzielle Zukunftsplanung vorgenommen habe?

Und auf sehr viele Dinge, die meine Gesundheit beeinflussen können – globale Entwicklungen, übergreifende wirtschaftliche Prozesse, die ökologische Gegenwart und Zukunft der Erde wie Umweltverschmutzung, Klimawandel etc. – habe ich fast gar keinen Einfluss.

Andrerseits hat die Übernahme eigener Verantwortung einige Vorteile, die ich hier nennen will. Den wichtigsten Vorteil habe ich bereits angedeutet: Die Übernahme von Verantwortung lässt uns aktiv werden undd schafft so die Möglichkeit für die Erfahrung stärkender und ermutigender Selbstwirksamkeit.

Das Anerkennen eigener Anteile kann mich davor bewahren, denselben Fehler immer wieder zu begehen. ‚Verantwortung‘ heißt, dass ich mich zu einer gegebenen Situation stelle und bewusste Wahlen treffe und so meine eigene persönliche Antwort gebe. Übernehme ich ‚Verantwortung’ im genannten Sinne, dann wird es leichter, meine Zukunft in meinem Sinne zu gestalten. Erst wenn ich die Dinge selbst in die Hand nehme, steigen meine Chancen, dass die Dinge geschehen, die ich will. Denn die Übernahme von Verantwortung zielt immer auf eine selbstbestimmte Gestaltung der Gegenwart und der Zukunft.

Die Zukunft ist ungewiss und der Erfolg meiner Bemühungen ist keineswegs garantiert, doch bestätige ich meine Würde und Selbstachtung in meinem Versuch, meine persönlichen Antworten auf die Herausforderungen, die beispiels­weise eine Erkrankung an mich stellt, zu finden.

Die Übernahme von Verantwortung erfolgt stets freiwillig oder sie erfolgt nicht.

Es handelt sich um eine innere Wahl, die wir treffen können. Mit gutem Grund ist unser Gemeinwesen so organisiert, dass es in der Regel keinen Zwang gibt, sich gesund zu verhalten. Das ist sinnvoll und Ausdruck einer Haltung, die die individuelle Freiheit als sehr hohes Gut betrachtet. Auch hier gibt es einsehbare Ausnahmen: Während der Covid19-Pandemie wurden Einschränkungen unserer Freiheit beschlossen, die uns zwingen, in manchen öffentlichen Räumen Atemschutzmasken zu tragen und Abstände einzuhalten, um uns und andere vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus zu bewahren. Freiheit war und ist hier tatsächlich Einsicht in die Notwendigkeit dieser Maßnahmen.

Die Übernahme von Verantwortung setzt Kräfte frei, die heilsam sein können.

Wunderbar illustriert ist dieser Gedanke im alten griechischen Mythos des Orest. Er stammte aus dem Geschlecht der Atreiden, das von den Göttern mit einem Fluch belegt worden war, weil Orests Großvater Atreus sich der Hybris schuldig gemacht hatte. Demselben Geschlecht gehörte auch Ödipus an, der unwissentlich seinen Vater tötete und seine Mutter ehelichte. Orests Mutter Klytämnestra hatte Orests Vater Agamemnon nach dessen Rückkehr aus Troja ermorden lassen, was den Sohn in ein unauflösliches und entsetzliches Dilemma stürzte. Einerseits gebot ihm die gültige Moral, den Vatermörder zu rächen und von eigener Hand zu töten. Andrerseits war das schlimmstmögliche Verbrechen der Mord an der eigenen Mutter. Orest tötet schließlich die Mutter und wird daraufhin von gnadenlosen Rachegeistern gequält, den sogenannten Erinnyen, denen er nicht entgehen kann. In permanenter Qual zieht Orest viele Jahre durch die Lande, bis er innerlich zum Schluss kommt, seine Strafe verbüßt zu haben. Er wendet sich an die Götter, die beschließen, seine Sache in einem Gerichtsverfahren zu regeln. Apollo bietet sich als Verteidiger Orests an und argumentiert, dass Orest keine Wahl gehabt habe. Die Götter hätten für ihn eine Situation geschaffen, die ausweglos gewesen sei. Da springt Orest auf und unterbricht Apollo: Nicht die Götter seien es gewesen, die das Schwert geführt hätten, das seine Mutter getötet habe. Er, Orest, sei das gewesen. Er allein trage die Verantwortung dafür. Die Götter reagieren erstaunt. Nie zuvor hatte ein Sterblicher die Verantwortung so rückhaltlos auf sich genommen und nicht stattdessen die Götter für sein Unglück verantwortlich gemacht. Sie sprechen ihn frei. Die Erinnyen verwandeln sich daraufhin in Eumeniden; das sind wohlwollende, freundliche Geister, die Orests Leben fortan begleiten.

Der Orest des Mythos übernimmt die volle Verantwortung für sein Handeln. Er hätte leicht auf den Familienfluch verweisen können, der ihn in seine entsetzliche Lage gebracht und zu seinem Handeln getrieben habe. Doch er verzichtet darauf. Und der Mythos teilt uns mit, dass solches Verhalten belohnt wird. Wenn wir aufhören, die Schuld an unserer misslichen Lage anderen zuzuschreiben, wachsen uns neue Kräfte zu. Und wenn es uns sogar gelingt, auch uns selbst von eigener Schuld an unserer Symptomatik freizusprechen und wir bereit sind, die Verantwortung dafür zu tragen, werden auch in unserem Leben mehr und mehr Eumeniden unseren Weg begleiten.

 

Schuld, Scham und Krankheit

Betrachten wir die mögliche Rolle von Schuld und Scham bei Krankheiten nun noch etwas genauer. Unsere Symptome werden häufig in der Tiefe von Scham- und Schuldgefühlen begleitet. Dies ist dann der Fall, wenn die Symptomatik einen inneren Abstand zu den Sollwerten sichtbar macht, die unsere Persönlichkeitsorganisation, zumeist unbewusst, dominieren.

Es sind die eigenen inneren Sollwerte, die bestimmen, wie ich mich fühlen, was ich denken, wie ich sein oder mich verhalten sollte, um als liebens- und lebenswertes Wesen angesehen zu werden – von mir selbst oder anderen Menschen. Diese Werte sind zumindest teilweise in unserem Bemühen entstanden, den Erwartungen unserer wichtigsten frühen Bezugspersonen, unserer Eltern und Vorbilder, zu entsprechen, um so ihre Zuneigung zu gewinnen und zu erhalten.

In stark an hohen Leistungsidealen orientierten Familien kann sogar bereits die Erfahrung, krank zu werden, einen Bruch mit den familiären Normen darstellen und daher von Ächtung und Geringschätzung begleitet sein. Wenn Kranksein etwas ist, was zu familiärem Statusverlust und Abwertung führt, so wird es mit Scham- und Schuldgefühlen aufgeladen, die sich sekundär sehr negativ auf den Krankheitsverlauf auswirken können. Dieser Zusammenhang mag sich bei manchen Herzinfarktpatienten zeigen, die alles daran setzen, nach dem Infarkt sofort wieder fit und leistungsfähig zu werden, wodurch ihr organismisches Regenerationstempo überfordert werden könnte.

Ein Kind, das sich ungeliebt fühlt, könnte zum Beispiel zu dem Schluß kommen, dass bei den Eltern braves und gehorsames Verhalten hoch im Kurs steht. Es könnte sich daraufhin zu einem Vorbild an Bravheit und Gehorsam entwickeln – unter Verzicht auf seine wilden, zügellosen und rebellischen Seiten, die es zu unterdrücken lernt – um sich so vielleicht doch noch die Liebe der Eltern zu sichern. Der schmale Korridor der Sollwerte ‚Bravheit und Gehorsam‘ definiert dann die Grenzlinien für das eigene Verhalten. Alles Verhalten, das sich jenseits dieses Korridors befindet, liegt dann in einem gefährlichen Bereich, in dem mit Beschämungen, Strafen oder Schuldgefühle weckenden Vorwürfen oder Äußerungen der Missbilligung zu rechnen ist. Diese Verhaltensweisen sind daher mit Angst besetzt. Angst führt zur Vermeidung. Der Vermeidung könnten nun auch gesunde Bedürfnisse und Wünsche zum Opfer fallen, die unserer Lebendigkeit und Vitalität dienen. Beispielsweise könnten wir es vermeiden, uns in Konfliktsituationen zu behaupten und für uns einzutreten. Oder wir könnten in einer Situation ausharren, in der wir unglücklich sind. Dadurch könnte eine innere Not bestehen bleiben, die sich mittel- oder langfristig zu einer Erkrankung auswachsen kann.

Wenn wir nicht so denken, fühlen oder uns verhalten, wie wir denken, fühlen oder uns verhalten sollten, können wir Schuldgefühle oder Scham empfinden. Gefühle der Scham haben mit der Bedrohung durch soziale Ausgrenzung zu tun. Das Schamgefühl zeigt uns an, dass wir fürchten, die Zugehörigkeit zu den für uns wichtigen Menschen, zu unserer Gemeinschaft zu verlieren, die sich von uns distanzieren könnten, weil wir den von ihnen als wertvoll angesehenen Normen nicht entsprechen. Bei Schamgefühlen erleben wir, dass etwas an oder in uns falsch oder schlecht ist. Wir erleben uns in unseren eigenen Augen und den Augen der anderen als falsch oder schlecht und würden deshalb am liebsten im Erdboden versinken, um den vermeintlich oder real entwertenden Blicken der anderen zu entgehen. Scham ist eine mächtige Kraft, denn sie wohnt ganz nahe bei unserem Identitätsgefühl.

Der Wunsch nach Zugehörigkeit, dem Bewahren einer Bindung und dem Erhalt von Anerkennung in den Augen anderer, ist eine mächtige Triebkraft für uns Menschen. Scham ist nun das Gefühl, das anzeigt, dass wir gerade in unserem inneren Erleben Gefahr laufen, etwas existenziell sehr Bedeutsames, wie es unsere soziale Zugehörigkeit nun einmal ist, zu verlieren.

Scham hat aber auch noch eine andere Seite. Sie zeigt an, dass andere Menschen dabei sind, unsere Grenzen zu verletzen und sie ist besonders dann stark, wenn es uns nicht gelingt, uns dagegen zu wehren. Ein Beispiel: Eine der wahrscheinlichen und tragischsten Folgen sexuellen Missbrauchs ist der Selbsthass und die Scham der Betroffenen, weil es ihnen nicht gelungen ist, ihre Intimgrenzen während des Missbrauchsgeschehens zu schützen. Das wirkt sich verheerend auf deren Selbstwertgefühl aus und es bedarf vieler Anstrengungen, diese Selbstablehnung zu mildern.

Kränkungen, also Äußerungen, die unsere Würde verletzen und unseren Wert untergraben, heißen nicht von ungefähr so. Kränkungen, gegen die wir keinen Schutz und kein Heilmittel finden, können das Beziehungsgift sein, das uns nicht nur seelisch sondern auch körperlich krank machen kann.

Schuld und Schuldgefühle sind selbstverständlich zu unterscheiden. Menschen können Schuldgefühle haben, ohne je etwas Schlimmes getan zu haben. Man denke nur an die Menschen, die ungewollte Babies waren und denen das Gefühl vermittelt wurde, ihre bloße Existenz sei bereits eine Zumutung. Diese Menschen haben in ihrem späteren Leben eine starke Tendenz, sich für ihre bloße Anwesenheit und all ihre Lebensäußerungen zu entschuldigen.

In aller Regel beziehen sich Schuldgefühle jedoch weniger auf unsere Identität, wie das bei der Scham der Fall ist, als sehr viel mehr auf unsere Handlungen: Wir haben etwas nicht getan, was wir nach den in uns wirksamen Normen und Sollwerten hätten tun sollen, oder wir haben etwas getan, was wir nicht hätten tun sollen. Wir haben eine Grenze überschritten bzw. eine Regel verletzt. Als Folge droht auch hier familiärer oder gesellschaftlicher Ausschluss; in schweren Fällen könnten wir zum sozialen Paria werden oder im Gefängnis landen.

(Schuldgefühle sind keineswegs nur negativ zu sehen; in gewisser Weise sind sie soziale Errungenschaften, da sie auf untergründige Bindungen verweisen. Menschen, die keine Bindungen aufbauen konnten, wie dies etwa für psycho- oder soziopathische Charaktere der Fall ist, sind zu den schlimmsten Handlungen fähig, ohne anschließend Reue oder Schuldgefühle zu empfinden. Es ist genau diese Unfähigkeit, Schuld zu empfinden und sich empathisch in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, die sie so gefährlich macht.)

Ein Kerngedanke meiner Internetseiten ist, dass die Ergründung der Vergangenheit mit zugehöriger Erforschung der möglichen Ursachen eines Symptoms weniger wichtig ist, als die gemeinsame Erarbeitung einer verantwortlichen und selbstbestimmten Position, die es erlaubt, die Gegenwart des aktuellen Symptoms und meines Umgangs damit so zu gestalten, dass meine Zukunft eine bessere wird. Die Zukunft ist ebenso ungewiss wie offen. Ich kann sie in der Gegenwart mitgestalten und mich dabei von meinen tiefsten Sehnsüchten leiten lassen – das ist die Idee.

Dennoch ist es unerlässlich, auch die Rolle verinnerlichter Sollwerte und Normen bei der Entstehung von Symptomen zu untersuchen. Symptome bilden sich oft genau entlang der Frontlinien der Kämpfe zwischen unseren Sollwerten und anderen seelischen Anteilen, die nicht ins gewünschte Bild passen. Das mögen Aspekte unserer animalischen Natur sein oder, häufig, Aspekte unserer ureigenen autonomen Strebungen, Träume, Wünsche, Antriebe und Ziele, die unvereinbar sind mit den Idealbildern, denen wir – unserer Selbstachtung/Selbsterhaltung und dem Erhalt unserer Beziehungen zuliebe – versucht haben, zu entsprechen. Scham- und Schuldgefühle können die Leitplanken sein, die uns ein recht harmonisches und sicheres Dahingleiten auf gesellschaftlich anerkannten Wegen erlauben.  Scham- und Schuldgefühle können aber auch, wenn sie im Übermaß vorhanden sind, unsere Lebenskraft und unsere Lebensäußerungen so sehr hemmen und verunstalten, dass unsere vitale Lebenskraft keinen anderen Weg mehr findet, auf sich aufmerksam zu machen, als ein Symptom zu entwickeln. Die uns eingrenzende Kraft unserer Sollwerte mag so der Engpass sein, an dem kein Ausweg als der der Symptombildung bleibt. Am Anfang des Weges, an dessen Ende schwere Krankheiten liegen, mögen daher – neben den Traumata von Vernachlässigung, Misshandlung und Missbrauch – Scham- und Schuldgefühle aufgrund unserer verinnerlichten Normen eine nicht unwesentliche Rolle spielen.

Um diese Zusammenhänge genauer bei sich selbst zu erkunden, könnten Sie sich beispielsweise fragen, welche „Ich-sollte-eigentlich …“- Forderungen sie an sich selbst stellen. Schreiben Sie in einem ruhigen Moment alle Ansprüche auf, die diesem Muster entsprechen: ‚Ich sollte eigentlich … (zum Beispiel:) eine gute Mutter oder ein guter Vater sein, mehr für meine Eltern tun, freundlicher sein, selbstbewusster sein, fleißiger sein, weniger trinken oder essen, weniger Zeit im Internet, vor dem Fernseher oder mit sozialen Medien verbringen, abnehmen, besser mit meinen Gefühlen klar kommen, besser mit Stress umgehen können, mehr Sport machen, geduldiger sein, weniger Angst haben, optimistischer sein, mehr Energie haben, reicher sein, einen anständigen Beruf haben, einen besseren Partner/eine bessere Partnerin habe, sparsamer sein, hilfsbereiter sein  etc. Nehmen Sie sich Zeit für diesen ersten Schritt.

Betrachten Sie dann in einem zweiten Schritt diese Liste mit etwas innerem Abstand und fühlen Sie nach, ob Sie hinter diesen Selbstansprüchen die Erwartungen wichtiger anderer Menschen an Sie erkennen können? Falls das so ist, fragen Sie sich, ob Sie dieser Erwartung tatsächlich gerecht werden wollen? Sollten Sie zu dem Entschluss kommen, dass Sie das nicht wollen, dann streichen Sie den Punkt von ihrer Liste. Bei den Punkten, die übrig bleiben, können Sie sich fragen, welche Punkte Ihnen wichtig genug sind, sie in persönliche Ziele zu verwandeln? Das sind Ziele, in denen Sie aus freien Stücken und mit einem guten Gefühl sagen können, dass Sie sie tatsächlich anstreben wollen.

Erstellen Sie dann eine Liste neuer Sätze, die Sie mit „Ich will …“ beginnen, also zum Beispiel: ‚Ich will herausfinden, was ich tun kann, um mich besser durchzusetzen.‘ Sie können ihr inneres Einlassen auf diese Liste ihrer Zielvorstellungen noch verstärken, indem Sie Sätze formulieren, die mit „Ich werde …“ beginnen, also z.B.: ‚Ich werde ab jetzt zweimal die Woche eine halbe Stunde Sport machen …‘ oder: ‚Ich werde mindestens 3 Mal pro Woche 20 Minuten meditieren.‘ So können Sie sich Schritt für Schritt aus alten Konditionierungen lösen und beginnen, Ihre eigenen Lebensregeln zu schreiben. Da diese Regeln Ihnen entsprechen und sie im Einklang mit Ihrer Seele sind, ist ein Zuwachs an Gesundheit unausweichlich.

 

Schuld und die Frage nach dem Sinn

Ich habe bereits wiederholt festgestellt, dass die Frage nicht lauten kann, ob jemand schuld an seiner Krankheit ist. (Allenfalls lässt sich die Frage nach der eigenen Mitverantwortung stellen.) Allerdings ist es so, dass erkrankte Menschen sehr häufig dazu neigen, die Frage nach der Schuld selbst aufzuwerfen. Es ist fast wie ein Reflex, sich nach einer Krankheitsdiagnose zu fragen: ‚Was habe ich falsch gemacht? Was habe ich getan, um mit dieser Krankheit geschlagen zu werden? Oder auch: Warum gerade ich?‘

Wir Menschen suchen nach Sinn in dem, was uns widerfährt. Ist die Ursache unserer Krankheiten nicht so eindeutig, wie dies etwa bei Lebensmittelvergiftungen oder Unfällen der Fall ist, bilden wir oft subjektive Krankheitstheorien. Das sind Vermutungen, mit denen wir Menschen uns zu erklären versuchen, warum wir krank geworden sind. Betrachten wir diese Krankheitstheorien beispielsweise bei Krebserkrankungen. Es ist interessant, dass nur 19 Prozent aller Menschen, die an Krebs erkranken, ausschließlich körperliche Ursachen als Hintergrund ihrer Erkrankung vermuten. Bei den restlichen 81 Prozent haben in ihren subjektiven Krankheitstheorien seelische Faktoren ein bedeutsames Gewicht. 35 Prozent sehen in seelischen Aspekten die allein entscheidenden Gründe für die Entstehung des Krebses. 46 Prozent vermuten eine Kombination seelischer und körperlicher Faktoren (vgl. Wickert 2020).

Es gibt sehr viel Forschung zur Rolle seelischer Faktoren bei der Krebserkrankung. Die geltende Lehrmeinung in der Psychoonkologie ist, dass es keine hinreichenden Belege für so etwas wie eine ‚Krebspersönlichkeit‘ gebe. Auch Zusammenhänge zwischen bestimmten seelischen Haltungen und Krebserkrankung seien in großen Studien nicht belegbar. Im Gegensatz zu diesen Forschungsergebnissen scheinen Menschen in ihren subjektiven Erklärungsversuchen hingegen oft von seelischen Einflüssen auszugehen.

Unabhängig davon, ob sie nun den Tatsachen entspricht, scheinen diese Kausalattributionen eine wichtige Funktion zu erfüllen, Die Psychologische Psychotherapeutin Dau-Schmidt meint, dass eine Krebsdiagnose und die zugehörige Behandlungssituation für die Betroffenen ein „äußerst bedrohliches Maß an Ungewissheit und persönlicher Machtlosigkeit“ (Dau-Schmidt, 126) bedeute. Der Verlust an Autonomie könne durch eine subjektive Krankheitstheorie, die eigenes falsches Verhalten in der Vorgeschichte der Erkrankung impliziert, wettgemacht werden:“ Dagegen eröffnet eine vermeintliche Kausalität zwischen „falscher“ Lebensweise und Krebsentstehung in dieser Situation eine Einflussmöglichkeit und Rückgewinnung der persönlichen Autonomie. Das Bedürfnis nach Verstehbarkeit und Kontrolle scheint bei vielen Menschen sogar dann zu überwiegen, wenn daraus Schuldgefühle resultieren.“ (Dau-Schmidt, 127) So finde der Mensch zurück zu einem Gefühl der Kohärenz im Sinne Antonovskys und stelle innerlich wieder eine „Ordnung“ her, „in der sich das eigene Schicksal leichter einfügen lässt als in unerklärliches und damit gefühlt sinnloses Leid.“ (ebd.) (Dau-Schmidt verweist auch auf mögliche Nachteile dieser Kausalattribuierung, die im Wesentlichen in einem möglichen Verlust an Motivation liegen könnte, die schulmedizi­ni­schen Behandlungen durchzuführen bzw. sich allzu sehr auf eine Änderung der eigenen ‚falschen‘ Lebensweise zu verlassen.)

Subjektive Krankheitstheorien sind also, wenn sie sich stimmig anfühlen, eine kreative Leistung, die unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt, wirksam sind, indem sie unser Kohärenzgefühl wieder erhöhen. Solch eine Theorie ist sicher in ihren gesundheitlichen Auswirkungen besser als das zwanghafte Verharren in der grübelnden Frage nach dem „Warum gerade ich?“, die oft nur Groll und Verbitterung weckt.

Bin ich nun verantwortlich für meine Erkrankung? Man kann die Frage in einem kausalen Sinn verstehen: Habe ich das ganze Leid meiner Erkrankung selbst erschaffen? So verstanden lenkt die Frage den Blick auf die eigene Vergangenheit und die schwierige Erforschung potenzieller Ursachen. Dieser Blickwinkel kann uns mit einer subjektiv stimmigen Krankheitstheorie ausstatten und uns so vielleicht wertvolle Hinweise auf das geben, was jetzt zu tun ist. Er kann aber auch zu massiven Selbstzweifeln und zwanghaftem Grübeln führen, das uns in keiner Weise weiterhilft.

Man kann die Frage aber auch im Hinblick auf den aktuellen Umgang mit der Erkrankung verstehen, also: Bin ich jetzt gegenüber meiner Krankheit verantwortlich? Macht es einen Unterschied, ob ich bereit bin, bei den Entscheidungen, die im Hinblick auf die Behandlung meiner Krankheit zu treffen sind, ein Wörtchen mitzureden? Dieser Aspekt der Frage lenkt den Blick auf die Gegenwart und die ersehnte Zukunft eines Lebens, in dem ich auf dem Pfad der Besserung angelangt bin.

Es gibt nicht wenige Menschen, die der Überzeugung sind, dass dieses Leben einer Schule gleiche und dass die Erfahrungen darin, insbesondere die schwierigen, Lektionen glichen, die es zu erlernen gelte. In dieser Sichtweise ist es letztlich die eigene Seele, die jede persönliche Erfahrung erschaffen habe. Weil das so sei, sei auch jeder zu 100 Prozent für die Geschehnisse in seinem Leben verantwortlich.

Ich gestehe, dass ich diese Haltung, aufrichtig und mit vollem Ernst gelebt, bewundernswert finde. Es erscheint mir letztlich als diejenige Antwort auf die gestellte Frage nach der Verantwortung, die den Menschen am ehesten in seiner Größe und seiner Würde erkennt und achtet. Und gleichzeitig lauern hier viele Gefahren der Hybris und der Anmaßung, des Stolzes auf die eigene robuste Gesundheit und der Geringschätzung für die vermeintliche Schwäche der anderen, der Überforderungsgefühle angesichts der vermeintlichen seelischen Ansprüche an sich selbst, der Beschämung angesichts der möglichen Unfähigkeit, die Lektion der Krankheit zu verstehen und daraus zu lernen.

Außenperspektive und Innenansicht

Eine Gefahr des beschriebenen Denkmodells besteht darin, sich zum Richter über eine andere Person aufzuschwingen. Es macht einen riesigen Unterschied, ob ein Mensch bei seiner Selbsterforschung zu einer für ihn stimmigen subjektiven Krankheitstheorie findet, oder ob ein anderer Mensch versucht, ihn von der Gültigkeit seines Erklärungsversuchs für die Symptome zu überzeugen. Ich möchte hier in aller Deutlichkeit folgendes dazu sagen: Es verbietet sich, jemand anderem zu sagen, er sei schuld an oder verantwortlich für seine Krankheit. Es verbietet sich auch, dem andere seine eigenen Theorien über seine oder ihre Krankheit in der Form einer Aussage nahezubringen, also etwa so: ‚Bei Deiner Partnerbeziehung war es ja klar, dass du irgendwann krank werden musstest.‘

Zulässig kann es sein, seine Vermutungen in Frageform zu äußern, sofern dies für den Erkrankten in Ordnung ist. Wir können nicht davon ausgehen, dass wir den erkrankten Menschen tatsächlich so genau kennen. Wissen wir denn wirklich, in welchen inneren Zwickmühlen diese andere Person steckt, welche Prägungen in ihr wirksam sind oder welche tiefen seelischen Konflikte all dem zugrunde liegen? Nein, das wissen wir nicht. Man mag sich einbilden, den Splitter im Auge des anderen Menschen zu erkennen und dass es eine große Hilfe sei, wenn man dem anderen ‚die Wahrheit‘ über seinen Splitter mitteilt. Doch man bedenke dabei stets den Balken vor den eigenen Augen. Selbst wenn wir also meinen, die klare Ursache für das Leiden des anderen zu sehen, verbietet es sich, diese dem anderen im Brustton der Überzeugung mitzuteilen. Was wir tun können, ist, aus unserer Außenperspektive heraus Fragen zu stellen, achtsam, mitfühlend und sanft.

Etwas völlig anderes ist die Innenansicht des Betroffenen, also die Art und Weise, wie sich ein Betroffener zu seiner Krankheit stellt und wie er sie sieht. Mir erscheint es sinnvoll, gegenüber der Erkrankung Verantwortung zu übernehmen und Fragen an sich selbst zu stellen. Das mag nicht Ihre Haltung sein, aber Fragen wie die folgenden sind allemal interessant und konstruktiv für die Beurteilung und zielgerichtete Veränderung einer momentanen Lebenssituation:

Was fehlt Ihnen im Leben? Was könnte, Ihrer Meinung nach, die tiefere Ursache für Ihre Krankheit sein? Wozu sagt Ihr Körper Nein? Gibt es etwas was Sie daran hindert, ihr Leben so zu leben, wie es Ihnen selbst entspricht? Erleben Sie Ihre Arbeit/ Ihr Sexualleben/ Ihre Beziehungen als erfüllend? Gibt es eine Liebesbeziehung in ihrem Leben und sind sie glücklich darin? Was schätzen Sie an ihrem Leben? Was loben und lieben Sie an sich selbst? Empfinden Sie ihre finanzielle Situation als solide oder als Stressfaktor? Bringen Sie Ihre Kreativität zum Ausdruck? Welche Regeln befolgen Sie, die Sie gerne brechen würden? Und: Was braucht Ihr Körper, um gesund zu werden? Was würde es brauchen, um ein Leben zu leben, das Ihr Körper liebt? Was würde Ihr Körper brauchen, um zu heilen? Wenn eine gute Fee vorbeikäme und Sie hätten einen Wunsch frei, welcher wäre das? (Die meisten dieser Fragen finden sich in dem lesenswerten Buch von Dr. Lissa Rankin (2014),117ff. Die Ärztin hat darüber hinaus einen Fragebogen an das Ende ihres Buches gestellt, der es Betroffenen ermöglicht, eine eigene Diagnose zu erstellen.) Falls Sie gerade mit einer Erkrankung ringen, würde ich Ihnen empfehlen, sich einige der Fragen, die Sie innerlich ansprechen, vorzulegen und jeweils aufzuschreiben, was Ihnen dazu in den Sinn kommt. Das kann sehr anregend und erhellend sein. Wagen Sie es!

Sich diese Fragen zu stellen ist sinnvoll, auch wenn wir objektiv nicht genau wissen können, wie stark der Einfluss dieser Faktoren auf unsere Gesundheit war. Es gibt keine letzte Autorität, die uns das sagen könnte. Die Medizin kann uns mit exakten Messwerten unseres Blutbildes oder anderen somatischen Markern versorgen. Diese Werte sind ein Hilfsmittel, um zu erkennen, wo wir körperlich stehen. Doch sie sind kein Ersatz für unsere Intuition und unsere daraus abgeleiteten Handlungen. Albert Einstein hat unsere Intuition als ein wahres Gottesgeschenk bezeichnet, das dem rationalen Verstand, der als nützlicher Diener zu sehen sei, weit überlegen ist. Vertrauen Sie Ihrer Intuition, sowohl was ihre persönliche Ursachenforschung als auch die Behandlungsplanung angeht. Unsere Intuition ist – neben den Empfehlungen eines erfahrenen und mitfühlenden Arztes oder Therapeuten – das Beste, was wir haben, um unser Lebensschiff durch die Strudel und Untiefen eines Krankheitsgeschehens zu steuern.

 

Missverständnis Nr. 3: ‚Ich bin ein Versager, wenn ich krank werde oder wenn ich es nicht schaffe, eine Krankheit zu überwinden und wieder gesund zu werden.‘

Die Leitplanken innerer verinnerlichten Normen und Wertmaßstäbe definieren das Feld, in dem ich mich bewegen kann, ohne mich unbehaglich zu fühlen. Jenseits dieser Leitplanken liegt das Feld der Anklagen und Urteile, der Demütigungen und Entwertungen. Dort warten Ängste, Schuld- und Schamgefühle. Im folgenden Abschnitt werde ich das Problem der Scham noch einmal aufgreifen und mich darauf konzentrieren. Ich tue dies, weil Scham und Schamgefühle in unserer narzisstisch geprägten Zivilisation von überragender Bedeutung sind. Sie stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit unseren Selbsturteilen, ein Versager oder nicht gut genug zu sein.

 

Wir leben in einer Gesellschaft, die den Idealen der Jugendlichkeit, der Rationalität, der Effizienz und der Selbstoptimierung huldigt. Das sind die Rahmenbedingungen, die unser Sein in dieser Gesellschaft durchtränken. Damit einher gehen mehr oder minder starke Ansprüche und Erwartungen. Zu den wichtigsten untergründigen Anforderungen zählen vermutlich die folgenden: Du musst Leistung bringen. Du musst funktionieren. Du musst stark sein. Du musst perfekt sein. Du musst es allen anderen recht machen. Du musst schnell sein etc. Darüber hinaus scheint ein Ideal der Unbeschämbarkeit zu grassieren: Cool Sein und Souveränität im Umgang mit potenziell Scham auslösenden Situationen stehen hoch im Kurs, so dass das Erleben und Zeigen von Schamgefühlen selbst wieder beschämend sein kann.

 

Wenn wir diese sozialen Erwartungen über die Erfahrungen mit unseren prägenden nahen Menschen verinnerlicht haben, werden sie zu bestimmenden Kräften und Motivationen unseres Handelns. Diese Kräfte können sich oft als stärker erweisen als die Bedürfnisse unseres Körpers oder Geistes nach Ruhe und innerem Frieden, Erholung und Regeneration oder auch nach Spaß und Erregung. Die Rufe des Körpers oder Geistes verhallen ungehört, weil die Leistungsansprüche und/oder anderen genannten Ansprüche zu eingeschliffenen Selbstansprüchen mutiert sind, die unsere Wünsche nach Entspannung, Spaß oder absichtsloser Muße übertönen. So können sie die Grundlage für chronischen Stress bilden und nicht zur zu Burnout (oder gar karoshi, dem Tod durch Überarbeitung) beitragen, sondern im Hintergrund für viele Erkrankungen mitverantwortlich sein. Drohende Beschämung hält uns allzu oft in einer Spur, die zur Ausbildung von Symptomen führt.

 

Neben der kausalen Rolle, die die Gefahr potenzieller Beschämung und Kränkung für unser Erkranken spielen mag, kann auch die Erfahrung selbst, krank zu werden, ein Grund für Scham sein. Ich will dies am Beispiel einer mutigen Frau illustrieren: Die buddhistische Schriftstellerin Sandy Boucher schildert ihre Erfahrungen mit einer eigenen Darmkrebserkrankung in einem sehr ehrlichen Bericht (Boucher (2010)). Nach einer Operation zur Entfernung von Tumorgewebe im Darm durchleidet sie eine Chemotherapie und sucht Linderung während eines Meditationsretreats bei ihrer Lehrerin Ruth Denison in der kalifornischen Mojave-Wüste. In dieser ihr vertrauten Umgebung und gehalten vom Vertrauen in ihre liebevolle und fürsorgliche Lehrerin und deren Lehre beginnt sie, loszulassen und ihre wirkliche Erschöpfung nach Monaten leidvoller Chemotherapie zu spüren. Boucher beschreibt das, was geschieht, als sie loslässt, mit den folgenden Worten: „Ich weinte voller Selbstmitleid, weil ich Krebs hatte. Ich weinte auch, weil ich mich schämte, Krebs zu haben. Insgeheim hatte ich die Idee genährt, dass nur Verlierer diese Krankheit bekommen oder unterdrückte Menschen oder Menschen, die ihre Gefühle nicht bearbeitet haben. Aus Selbstschutz hatte ich mir eingeredet, es seien jene anderen, die anfällig waren für Krebs, nicht ich, die ich immer die Starke, Tapfere und Beherzte gewesen war. Jetzt hatte ich mich unter die Betroffenen eingereiht und das war schwer zu verkraften.“ (Boucher 2010, 161)

 

Boucher schildert hier sehr aufrichtig, wie kränkend das Erfahren einer Erkrankung für die Ich-Ideal-Vorstellung sein kann, die sie von sich hat. Sie schämt sich für ihren Krebs, weil sie tief innen glaubte, dass nur „Verlierer“, „unterdrückte Menschen“ oder Gefühlsverdränger diese Krankheit bekommen würden. Damit ist sie sicher nicht allein. Scham entsteht aus der Differenz zwischen Ich-Ideal und realer Ich-Erfahrung. Bereits die Tatsache einer Krankheitsdiagnose kann Scham auslösen, da wir schwarz auf weiß darüber in Kenntnis gesetzt werden, dass wir den Normbereich zulässiger somatischer Werte verlassen haben, somit ‚mangelbehaftet‘ sind.

 

Krankheit steht im Widerspruch zu den oben genannten untergründigen Erwartungen. Wir können kaum noch Leistung bringen oder funktionieren, wenn wir krank sind. Wir fühlen uns nicht stark, sondern schwach. Wir können Dinge nicht mehr schnell erledigen, sondern brauchen sehr viel mehr Zeit, wenn wir die Dinge überhaupt noch schaffen. Und wir fühlen uns weit entfernt davon, perfekt zu sein. Es anderen recht zu machen, was vielleicht bislang ein Grund für unser Selbstwertgefühl oder unsere Beliebtheit war, geht vermutlich nur noch in sehr geringem Masse, wenn überhaupt. Im Gegenteil sind wir oft auf die Hilfe anderer angewiesen. Die Krankenrolle entlastet uns von Alltagspflichten, aber sie bringt oft auch Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit von anderen Menschen mit sich. Das sind Erfahrungen, die im Widerspruch zu unserer Vorstellung von individueller Autonomie stehen, die sicher ein Zivilisationsideal in westlichen Gesellschaften ist und bislang vielleicht auch ein Leitstern in unserem Leben gewesen sein mag.

 

Wie so oft ist das Mittel, um sich aus der Herrschaft dieser Ansprüche zu lösen, das Anerkennen und Akzeptieren unseres gegenwärtigen kranken Zustands. Dazu ist es erforderlich, die Gültigkeit der genannten Ansprüche und Erwartungen zu hinterfragen und ihre Allgemeingültigkeit zu relativieren.

 

Das Üben von Selbstakzeptanz ist ein zentraler Schritt, um zu beginnen, mich nicht als persönlichen Versager zu sehen, wenn ich erstens Symptome habe oder es mir zweitens nicht gelingt, diese zu überwinden. Denn in der Sicht, die ich hier vertrete, hat die Ausbildung einer persönlichen Symptomatik keineswegs etwas mit einem persönlichen Versagen zu tun.

 

Erstens fließen in unser Gesundsein oder unser Krankwerden so viele Einflussfaktoren ein, dass wir beim besten Willen und bei größter Weisheit nicht in der Lage sind, all diese Faktoren wahrzunehmen, geschweige denn zu kontrollieren. Einige dieser Faktoren haben mit unseren kindlichen Prägungen zu tun, von deren Existenz und Auswirkungen wir aufgrund ihrer Verlagerungen ins Reich des Unbewussten sehr häufig gar nichts mehr bewusst wissen. Einige mögen mit Umweltfaktoren zu tun haben, die wir nicht bemerkt haben oder denen wir uns nicht entziehen können. Einige mögen mit Beziehungsaspekten zu tun haben, die wir entweder aufgrund unserer blinden Flecken und Verblendungen gar nicht erkennen oder denen wir uns ohnmächtig ausgeliefert fühlen. Einige mögen mit transgenerationalen Weitergaben in unserer Familie oder historischen Prozessen zu tun haben, von denen wir selbst nichts wissen.

 

Zweitens wäre es in dieser Sicht grundsätzlich falsch, eine Symptombildung als Versagen zu betrachten. Zumindest in psychothera­peu­tischen Kreisen hat sich mit gutem Grund die Sichtweise durchgesetzt, dass jedes Symptom als kompetenter und oft genialer Lösungsversuch zu sehen ist, mit dem die uns innewohnende unbewusste Weisheit versucht, unauflösbare Widersprüche und innerseelische Spannungen in eine Form zu bringen und zu bändigen. Symptome werden als Lösungsversuche für unsere unbewussten Konfliktspannungen gesehen, die uns über ihr Auftreten mehr oder minder schmerzhaft dazu drängen, unser Leben auf für uns wichtigen Ebenen neu zu bedenken und tiefer zu betrachten. Kurz: Wenn wir Symptome ausbilden, haben wir nicht versagt. Es zeigt nur an, dass unsere bisherigen Lösungen in eine Krise geraten sind. Sie taugen nicht mehr und wir sind aufgefordert, eine neue Antwort zu finden. Dazu kann es notwendig werden, unsere Normen und Wertmaßstäbe, die vielleicht bislang auch wesentliche Teile unserer Identität gestiftet haben, zu hinterfragen und uns neu auszurichten.

 

Von Versagen zu sprechen macht drittens nur im Hinblick auf Ziele Sinn, die ich zu erreichen suchte. Meine Symptomatik mag nun anzeigen, dass bestimmte Verhaltensweisen oder Einstellungen meiner Gesundheit abträglich sind und mich zu einer Korrektur drängen. Insofern macht die Symptomatik eventuell deutlich, dass manche meiner Eigenheiten, Einstellungen und Verhaltensweisen eher geeignet sind, mich krank zu machen, so dass es sinnvoll sein könnte, andere und möglicherweise gesündere Angewohnheiten anzunehmen.

Dies gilt selbstverständlich nur dann, wenn Gesundheit mein Ziel ist. Sofern die Vorteile der Krankenrolle jedoch nach meiner bewussten und/oder unbewussten Einschätzung die Nachteile überwiegen, könnte Symptomfreiheit und Gesundheit gar nicht mein vorrangiges Ziel sein. In diesem Falle wäre es keineswegs als ein persönliches Versagen anzusehen, krank zu werden und zu bleiben, sondern im Hinblick auf den möglichen bewusst oder unbewusst intendierten Krankheitsgewinn (Entlastung von erwachsenen Verantwortlichkeiten, Zuwendung durch Pflegepersonen, Versicherungs­leistungen, frühere Verrentung, Mitgefühl etc.) durchaus als ein Erfolg anzusehen. Eine Krankheit erscheint zuweilen als der beste sozial anerkannte Weg, um sich unerträglichen Lebenssituationen zu entziehen, die anderweitig nicht zu meistern waren.

Versagen impliziert ein persönliches Scheitern. Die Selbstanklage, ein dummer und unfähiger Versager zu sein, entmutigt, entwertet und deprimiert uns und kann sich so wieder schädlich und verschlimmernd auf unsere Symptomatik auswirken. Sich selbst einen Versager zu schimpfen, weil man krank geworden ist, kann die Krankheit verschlimmern. Viel tröstlicher, ermutigender und sinnvoller ist es, wie dies der Psychoonkologe Carl Simonton sogar im Zusammenhang mit so gravierenden und bedrohlichen Erkrankungen wie Krebs tut, unsere Symptome als Botschaften der uns innewohnenden Liebe zu sehen. Einer Krebserkrankung wohne nach Simonton der tiefere Sinn inne, dass sie uns durch ihr Erscheinen darauf hinweisen, dass wir unseren ureigenen Lebensweg verlassen haben. Ein weiterer Pionier der Psychoonkologie, Lawrence LeShan, spricht davon, dass das Auftauchen der Krebserkran­kung uns mitteilen könnte, dass wir noch nicht gelernt haben, unsere ureigene Lebensmelodie zu spielen und sie uns dabei helfen kann, diese zu finden. Auch ein weiterer Lehrer auf diesem Gebiet, Grossarth-Maticek, betont die überragende Bedeutung der Selbstwerdung und des Selbstausdrucks für die Überwindung einer Krebserkrankung und konzentriert sich in einem eigens dafür konzipierten Training auf die Stärkung der Autonomie seiner Krebspatienten. Auch wenn die aktuelle Lehrmeinung in der Psychoonkologie diesen Sichtweisen mit Skepsis begegnen mag (vgl. Wickert 2020), scheinen mir die therapeutischen Erfolge der oben genannten Mediziner dafür zu sprechen, ihre Standpunkte weiter zu bedenken und zu nutzen.

Ich möchte in diesem Zusammenhang auch darauf hinweisen, dass erfahrene Psychoonkologen den Gedanken der Förderung von Autonomie und Selbstwirksamkeit ganz selbstverständlich als Behandlungsprinzip verwenden.  Beispielsweise schildert Reinhold Williges, ein Psychoonkologe mit 40-jähriger praktischer Berufserfahrung in der Arbeit mit Krebskranken mit Praxis in Pforzheim, in einem Vortrag auf dem Hamburger Kongress ‚Salutogenese bei Krebs‘ (2017), welch großes Augenmerk er in seinen Behandlungen auf die Förderung eines aktiven Krankheitsbewältigungsstils und das Erkennen und Ausdrücken autonomer Bedürfnisse und Wünsche legt. Der für ihn wichtigste Faktor in seiner Behandlungsstrategie sei die Neudefinition des „sozialen Selbst“ des Erkrankten, der aufhören müsse, Erwartungen der anderen gerecht zu werden und stattdessen zum „Anwalt seines eigenen Körpers“ werden solle. Williges ermuntert seine Patienten beispielsweise zu den folgenden Haltungen: ‘Ich mach nur noch das, was mein Körper mir sagt. Was ich früher gemacht habe, das mach ich nicht mehr. Ich denke jetzt mehr an mich selbst, weil ich gesund werden will. Hast Du was dagegen?‘ Er vermittelt das Bewusstsein und die Kontrollüber­zeugung, dass es gut ist, wenn „wir entscheiden, wie wir mit unserem Körper umgehen“. Es gehe darum, sich aus Fremdbestimmungen zu lösen, kein braver Erwartungserfüller mehr zu sein, sondern sich aus „Helferitis“ zu lösen, öfter ‚Nein!‘ zu sagen und selbstbewusste „Ich-Botschaften“ zu senden (Williges 2017).

Das Auftreten einer krankheitswertigen Symptomatik ist bei all den zuletzt genannten Autoren und Therapeuten nicht als ein Versagen, sondern sehr viel eher als ein Weckruf zur Neuausrichtung unseres Lebens hin zu einem Mehr an authentischer Individuation zu sehen.

 

Missverständnis Nr. 4: ‚Wenn ich glaube, dass meine Symptome und die von anderen Menschen einfach Schicksal sind, ist das psychisch sehr entlastend und sehr viel nützlicher als die belastende Idee eigener Mitverantwortung.‘

Das ist ein sehr bedenkenswerter Einwand. Der Gedanke einer rein äußerlich zugefügten Verursachung unserer Symptome, sei sie genetischer und damit schicksalhafter Natur oder sei es die Benennung von äußeren Giftstoffen, Strahlen, Viren und Bakterien als Auslöser unserer Erkrankungen wirkt in der Regel psychisch sehr entlastend und spricht uns frei von eigenen Anteilen am Symptom. Und bei vielen Erkrankungen spielen die genannten Faktoren ja auch tatsächlich eine entscheidende Rolle (etwa bei Vergiftungen, radioaktiver Verstrahlung, den glücklicherweise seltenen Erbkrankheiten oder eben auch Covid 19 bei Vorliegen erheblicher Vorerkrankungen, Infektionen mit Krankheitserregern etc.). Und es ist bekannt, dass Schicksalsschläge wie der Verlust eines geliebten Menschen zu einer unspezifischen Erhöhung der Krankheitsanfälligkeit führen. (Vgl. Dau-Schmidt 2020)

Der Nutzen dieser psychischen Entlastung kann tatsächlich erheblich sein, insbesondere durch eine Bestätigung der eigenen Normalität. Es ist daher immer auch zu bedenken, dass ihr Nutzen für die Gesundung des Menschen zuweilen höher ist als der zunächst beunruhigende und potenziell belastende Gedanke eigener Mitbeteiligung am Symptom. Ich weiß das aus eigener Erfahrung. Mein Augenarzt hat mir jüngst wieder versichert, dass ich keine Schuld an meiner Glaukom-Erkrankung habe, weil mir diese genetisch weitergegeben wurde. Das fühlt sich gut und entlastend an. Etwas in mir atmet auf, in diesem guten Gefühl, völlig in Ordnung zu sein.

Das geschieht sogar wider besseres Wissen: Die Augenerkrankung wurde in der Zeit aktiv als meine Frau in die letzten Stadien ihrer tödlichen Krebserkrankung eintrat und ich mich – oft äußerst schmerzlich und verzweifelt – so fühlte, als schaue ich ihr beim Sterben zu, ohne es verhindern zu können. Ich weiß nicht, ob das wirklich so ist, doch erscheint es mir sehr plausibel, einen Zusammenhang zwischen meinem Entsetzen über das offenbar unaufhaltsame Geschehen und dem ersten massiven Auftreten meiner Augenerkrankung zu vermuten. (Mein sicher in seinem Wissensfeld sehr kompetenter Augenarzt hingegen sieht nur die genetische Prägung. Das genügte ihm völlig zur Erklärung. Nach den Lebensumständen, in denen die Erkrankung sich zu zeigen begann, hat er nie gefragt, weil das in einer rein organmedizinischen Sicht der Dinge keine Rolle spielt.)

Der Gedanke des unglücklichen Geschicks, das über unser Wohl und Wehe entscheidet, enthält sicher auch einen wichtigen wahren Kern: Die erwähnte Mehrgenerationen­perspektive der Familientherapie macht uns wie schicksalhaft zu unbewussten Trägern des ungeheilten Konflikterbes unserer Vorfahren. Wenn man nicht glauben mag, wie dies einige esoterisch angehauchte Mitmenschen im Brustton der Überzeugung tun, dass wir unsere Eltern selbst gewählt haben, dann wären wir in der Tat zunächst Opfer von Ereignissen und Konflikten, die sich lange vor unserer Zeugung zugetragen haben. So wie dies unsere Eltern vor uns waren. Und deren Eltern und so weiter und so fort.

Allerdings ist auch hier zu bedenken, dass es nie das äußere Phänomen allein ist, das in einem linearkausalen Sinne zwangsläufig zu einer bestimmten Wirkung führt. Neugeborene bringen unterschiedliche Temperamente mit auf diese Erde und einige mögen besser mit ihren Eltern harmonieren als andere. Die Art der sich in unserer Kindheit entwickelnden Beziehungen ist anfänglich ganz entscheidend für unser Wohl und Wehe. Doch später, vor allem als Erwachsene haben wir mehr und mehr Möglichkeiten, uns unserer Prägungen bewusst zu werden und sie gestaltend zu beeinflussen. Es gibt einen Punkt im Leben, an dem wir uns nicht mehr auf eine Opferposition zurückziehen können, weil unsere Möglichkeiten als Erwachsene zumindest etwas zugenommen haben, die Heldenreise unseres Lebens aktiv zu gestalten. Ähnlich wie in dem Apercu, dass man irgendwann im Leben anfängt, für sein eigenes Gesicht verantwortlich zu sein, wird durch die Zunahme unserer Einfluss- und Gestaltungsmög­lichkeiten als Erwachsene auch unser Gesundsein und unser Krankwerden mehr und mehr zu einem Geschick, an dem wir Anteil haben.

Das Glaubenssystem der äußeren oder schicksalhaften Verursachung von Krankheits­symptomen hat andere gravierende Nachteile, die meiner Meinung nach langfristig schädlicher sind als ihr eventuell kurzfristig entlastender Nutzen. In diesem Modell sind und bleiben wir das Opfer schicksalhafter Kräfte, die jederzeit über uns hereinbrechen können und sind diesen mehr oder minder hilflos ausgeliefert. Wir sind und bleiben in diesem Denken arme Opfer, die einfach Pech hatten bei der Verteilung der Gene oder bei der Schicksals­lotterie, bei der unsere Lose im Hinblick auf Krankheit und Gesundheit ausgespielt werden. Solches Denken legt nahe, auf die Arbeit an unserer Selbsterkenntnis zu verzichten, die alle Aspekte unseres Lebens verwandeln könnte. Unser seelischer Anteil, der im Symptom „in den Schatten gestürzt“ (Dethlefsen) wurde, bleibt uns so verborgen. Anders gesagt heißt das, dass wir unser ‚inneres Kind‘ in seinem trostlosen und sogar uns selbst verborgenen Gefängnis zurück und dort verkümmern lassen. In der Begegnung mit unseren unbewussten Anteilen könnte uns vieles bewusst und zugänglich werden, was insgeheim unser Leben bestimmt, es manchmal zu ruinieren droht, es aber auch entscheidend und in günstiger Weise verändern könnte. Dieses Bewusstwerden würde uns eben auch in die Lage versetzen, unsere Entschei­dun­gen selbstbewusst und sorgfältig zu treffen, um unsere Zukunft in positiver Weise zu gestalten.

Und in der Auseinander­setzung mit diesen Schattenaspekten könnten wir Selbstakzeptanz und Mitgefühl für uns selbst erlangen und mehr Milde und Barmherzigkeit mit anderen erlernen, die vielleicht an ähnlichen Symptomen leiden wie wir selbst. Stattdessen machen wir uns als Anhänger eines Schicksalsmodells eher abhängig von äußeren Experten oder den Produkten der Pharmaindustrie und verlernen es dadurch nur noch mehr, unserer inneren Stimme zu vertrauen und ihr zu folgen. Zusammengefasst: Wir könnten unsere langfristige Gesundheit einer kurz­fristigen Ruhigstellung unserer Symptomatik opfern. Wir verzichten auf Bewusstwerdung und damit letztlich auf Heilung und Ganzwerdung.

 

Missverständnis Nr. 5: ‚Der Gedanke, man könne durch eigenes Tun seine Gesundheit bewahren, ist falsch und Ausdruck einer an Größenwahn grenzenden menschlichen Arroganz.‘

In der Tat wäre es Hybris, anzunehmen, wir wären in der Lage, durch eine achtsame und bewusste, auf Gesundheit ausgerichtete Lebensgestaltung zu verhindern, Symptome zu bekommen und zu erkranken. Es wäre das Ergebnis eines grandiosen und sich selbst maßlos überschätzenden Denkens, zu glauben, wir könnten unser Gesundsein durch unsere engagierten Bemühungen bewerkstelligen und garantieren. Das können wir nicht. Und es ist von elementarer Bedeutsamkeit, sich dieser Wahrheit zu stellen und sie mit Demut anzuerkennen. Wir können zwar unsere Chancen auf eine gute Gesundheit erhöhen, aber wir haben nie, selbst bei größter Anstrengung, die Garantie, dass wir durch unser Engagement das Auftreten von Krankheiten verhindern oder die Wiederherstellung unserer Gesundheit erreichen können. Das scheint mir deshalb nicht möglich, weil wir eben solch vieldimensionale Wesenheiten, verbunden mit allem, in einer höchst komplexen vieldimen­sionalen Welt sind und sich sehr vieles unserer Bewusstwerdung, geschweige denn unserer Kontrolle, entzieht. Es ist gut, Kontrollillusionen als solche zu erkennen und sie aufzugeben.

Gesundheit – aber auch Krankheit – enthält immer ein Element des Numinosen und der Gnade. Die zahllosen Facetten von Gesundheit und Kranksein enthalten Elemente eines Mysteriums, das sich unserem vollständigen Verstehen wohl immer entziehen wird.

Genau dieser letzte Gedanke ist es jedoch auch, der uns demütig machen sollte. Und dankbar, sofern uns ein gnädiges Geschick mit einer robusten Gesundheit ausgestattet hat. Demut und nicht Stolz und Überheblichkeit ist das, was uns bei der Konfrontation mit Symptomen nützen mag. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich bei der Erforschung der Wirkung von Gebeten das Gebet als das wirksamste erwiesen hat, das von einer Haltung des „Dein Wille geschehe“ getragen war. Demut und die freiwillige Unterordnung unter subjektiv angenommene Höhere Mächte enthalten so in sich wieder heilsame Kräfte, die von großem Nutzen sind. Demütig zu sein heißt jedoch keineswegs, alles nur passiv hinzunehmen und geduldig zu ertragen. Sie steht ganz gewiss nicht im Widerspruch zu einem aktiven und selbstverantwortlichen Engagement im Umgang mit unseren Symptomen; im Gegenteil gibt sie diesem eine würdevolle Note und Kraft.

Die Einforderung von Demut kann jedoch auch zu einer Waffe werden, die den Wert jedes selbstverantwortlichen Engagements diskreditiert. Daher ist immer auch zu betrachten, auf welchem gedanklichen Hintergrund dieser Einwand aufgebaut ist. Er ist sinnvoll, wenn er sich auf mögliche grandiose Selbstüberschätzungen in uns richtet. Wenn es jedoch der religiös inspirierte Glaube ist, dass Krankheit eine göttliche Strafe für eigenes sündiges Fehlverhalten sei und alles außer der unterwürfigen Hinnahme der göttlichen Strafaktion erneut als eitle und hoffärtige Verblendung zu sehen wäre, dann wäre dies sehr schädlich. Und es wäre dem mit aller Entschlossenheit entgegen zu treten, denn ein solches Denken ist schrecklich: Es erschafft durch den schlimmen Gedanken eines auf Rache sinnenden und strafenden Gottes eine seelische Not, die sich nicht nur höchst schädlich auf den Gesundungsprozess einer Person auswirken kann sondern eventuell auch ganz massiv zur Entwicklung einer Symptomatik beigetragen haben könnte. Beispielsweise erschafft christliches Denken, das allein schon den flüchtigen Gedanken des Begehrens an eine andere Frau als die eigene Ehefrau als tatsächlich vollzogenen Ehebruch betrachtet, eine Welt von Sündern, die sich mit Schuldgefühlen herumplagen müssen. Das führt dazu, dass es nicht wenige Psychotherapeuten gibt (oder zumindest: gab), die offen bekennen, dass sie religiösem Denken und seinen Verirrungen einen Großteil ihrer Patienten verdanken (siehe etwa: Peck 1986). Glücklicherweise schwindet die Macht dieser religiösen Versündigungsideen mehr und mehr.

 

Missverständnis Nr. 6: ‚Warum sollte ich das Symptom zu meiner Angelegenheit machen? Es gibt schließlich Experten, die das studiert haben und Bescheid wissen. Die sind dafür da und sie werden mir schon helfen.‘

Vielleicht möchte etwas in uns lieber in der Erwartungshaltung bleiben, dass ein Experte uns mithilfe seiner Kenntnisse schon von unseren Symptomen befreien wird? Diese Erwartung hat etwas Naheliegendes und Selbstverständliches an sich und ganz sicher sind sehr viele Ärzte, Therapeuten und andere Helfer im Gesundheitswesen kompetent und hilfreich darin, uns bei der Überwindung unserer Symptome zu unterstützen. Sie haben ihren Job in langjährigen Ausbildungen gelernt und meistens viele berufliche Erfahrungen gesammelt. Insofern hat diese Erwartung natürlich ihre Berechtigung. Es ist großartig, dass es diese Experten gibt und und wer es geschafft hat, einen kompetenten und engagierten Arzt oder Helfer zu finden, hat allen Grund, dafür dankbar zu sein.

Es bleibt jedoch wichtig, sehr genau zu betrachten, inwieweit das Einholen der Expertenmeinungen dazu dient, selbstbestimmte Entscheidungen zu treffen oder inwieweit der Kontakt mit dem Expertensystem (also den Institutionen unseres Gesundheitssystems) zur Abgabe eigener Verantwortung an die Experten führt. Behalte ich die Verfügungsgewalt über mich oder geschieht bei der Begegnung mit dem Expertensystem das, was der Philosoph Ivan Illich schon vor geraumer Zeit die „Enteignung der Gesundheit“ (Illich 1975) genannt hat? So dass ich mich einer Maschinerie ausliefere, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt und die zwar mein Wohl im Auge hat, aber dies oft genug ohne Interesse an mir selbst und meinem subjektiven Erleben, Bewerten und Entscheiden anzustreben scheint? Die „Enteignung der Gesundheit“ geht mit einer Enteignung der Verfügungsgewalt über den eigenen Körper einher. Wer diese Kritik übertrieben findet, war noch nicht mit dem Untersuchungsmarathon konfrontiert, dem heutzutage Schwangere ausgesetzt sind oder war noch nicht Patient in einem Großklinikum, in dem der einzelne Mensch ganz der Maschinerie der Apparatemedizin und den strukturellen Anforderungen des Klinikbetriebs untergeordnet wird und wenig zu sagen hat.

Und sehnen wir uns nicht alle nach der zumindest zeitweiligen Aufgabe der Verantwortung für uns? Der Psychosomatiker und ursprüngliche Erfinder des von Sigmund Freud verwendeten (jedoch in seiner ursprünglichen Bedeutung deutlich veränderten) Es-Begriffes, Georg Groddeck, meinte, dass in jeder Krankheit eine Sehnsucht nach der Rückkehr in unsere früheste Kindheit enthalten sei, ein Wunsch nach dem sorglosen Sich-tragen-lassen, eine Sehnsucht nach der „gütigen, sorgenden Mutter“ (Groddeck 1988, 24).

In den allermeisten Menschen gibt es eine tiefe Sehnsucht nach dem allwissenden und allmächtigen Heiler, der das Zauberwort kennt, über die eine wahre Methode verfügt oder uns das eine wirksame Medikament gibt und uns damit schnell und wundersam von unserem Leiden erlöst. Diese zutiefst menschliche Sehnsucht ist der Grund dafür, dass viele Menschen auf immer neue Angebote des riesigen Gesundheitsmarkts hereinfallen, die eine schnelle und einfache Heilung versprechen. In aller Regel werden wir davon enttäuscht werden. Nur um beim nächsten als sensationell angepriesenen neuen und unerhörten Heilverfahren wieder unserer Sehnsucht zu folgen und eine neue Enttäuschung zu erleben. Und so weiter und so fort. Das Versprechen der schnellen Heilung scheint so viel Anziehungskraft zu haben, dass Enttäuschungen rasch vergessen oder verdrängt werden. Außerdem kommt es unserer Trägheit und Bequemlichkeit entgegen, wenn wir weiterhin der Illusion anhängen, Heilung sei schnell erreichbar und einfach konsumierbar. Das ist ein jedoch ein Irrtum. Heilung ist nicht konsumierbar.

Bei vielen Krankheiten, die zu den chronischen gezählt werden, besitzen die medizinischen Experten bekanntermaßen noch gar keine guten Lösungen, wie etwa bei chronischen Schmerzen, Autoimmunerkrankungen oder rheumatischen Problemen. Einige Krebserkrankungen sind inzwischen sehr gut behandelbar, während andere wie der Bauchspeicheldrüsenkrebs oder der Lungenkrebs kaum etwas von ihrem tödlichen Schrecken verloren haben. Hier scheint es also in besonderem Masse sinnvoll, sich nicht allein auf die Experten zu verlassen. Es ist kein Wunder, dass viele Entscheidungen über mögliche Behandlungswege heutzutage in sogenannten Tumorkonferenzen getroffen werden, in denen sich viele Experten austauschen und über sinnvolle Maßnahmen beratschlagen. Dies hat mit der enormen Unsicherheit zu tun, die den medizinischen Interventionen anhaftet. Jeder Patient ist einzigartig und daher ist die Evidenzbasierung der medizinischen Maßnahmen zwar sinnvoll aber auch durch statistische Wahrscheinlichkeiten in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt.

Die eigene Intuition ist ein wunderbares Ratgebersystem, das großen Nutzen bringen kann. In der Krankheitsgeschichte der erwähnten Buddhistin Sandy Boucher kam es zur Wende, als sie während einer Meditation intuitiv erkannte, dass die Chemotherapie ab einem bestimmten Zeitpunkt nur noch destruktiv für ihren Körper war. Sie erkannte mit großer Klarheit, dass die Fortführung der Chemotherapie sie töten würde und brach daher diese Behandlung ab. Sie informierte den behandelnden Arzt darüber, der – zu ihrer Überraschung – mit Verweis auf all die Unsicherheiten medizinischer Maßnahmen nicht auf einer Fortführung der Chemotherapie bestand. In der Folge gesundete sie. (Das soll gewiss keine Anstiftung dazu sein, eine Chemotherapie abzubrechen. Jeder Fall ist anders, weil eben jeder Mensch anders ist. Es soll nur eine Anstiftung sein, die innere Stimme der Intuition anzuhören und ihr gegebenenfalls Vertrauen zu schenken.)

Erinnern wir uns: All den Menschen, die eine unerwartete Heilung ihrer Krankheit erfahren haben, ist gemeinsam, dass sie die Erkrankung zu ihrer ureigenen Angelegenheit gemacht und Verantwortung für den Genesungsprozess übernommen haben. Sie vertrauten ihrer Intuition Und haben wir nicht gelernt und oft schmerzlich genug erfahren, dass auch die besten Experten uns nur Hinweise und Empfehlungen geben konnten, die Arbeit jedoch letztlich von uns selbst erledigt werden musste? Und dass wir andrerseits von Stolz auf unsere eigene Leistung erfüllt waren, wenn es uns gelungen ist, eine günstige Entwicklung für uns durch unser tatkräftiges eigenes Engagement zu erreichen? Wenn wir uns dazu entschlossen hatten, auf uns selbst zu vertrauen und unser Geschick selbst in die Hand zu nehmen? Gab uns das nicht ein jedes Mal Selbstvertrauen und Kraft?

Ist es da nicht besser, sich selbst beim Auftreten von Symptomen zu sagen: ‚Gut, ich habe damit zu tun?! Und weil ich irgendwie damit zu tun habe, auch wenn ich anfangs noch nicht weiß, wie und was ich damit zu tun habe, mache ich es zu meiner Angelegenheit! Ich höre mir den Rat des Arztes oder Therapeuten an, und ich schaue und höre mich um, was ich selbst tun kann und gebe diesen Aktivitäten Zeit und Raum in meinem Leben. Das bringt mich aus der Opferrolle heraus und gibt mir das gute Gefühl, den Ereignissen nicht hilflos ausgeliefert zu sein, sondern selbst etwas machen zu können. Dabei bleibe ich mir bewusst, dass meiner Selbstwirksamkeit Grenzen gesetzt sein können und ich nicht die Kontrolle darüber habe, ob meine Bemühungen letztlich von dem Erfolg gekrönt werden, den ich mir wünsche. Ich mache mir bewusst, dass meine Heilung letztlich ein Geschenk ist, für das ich etwas tun kann, das ich jedoch nicht bewirken kann. Wenn die ersehnte Heilung trotz meiner Bemühungen ausbleibt, so bedeutet das nicht, dass Gott mich verlassen hat, ich zu dumm oder zu unbewusst bin, ich nicht liebenswert bin oder ich die Heilung nicht verdient hätte. Es bedeutet einfach, dass die Heilung ausbleibt. Und ich übe mich darin, der Versuchung zu widerstehen, dem Mysterium meiner Nichtheilung eine tiefere Bedeutung zu geben. Ich kann mich gut mit mir fühlen, denn ich habe getan, was ich konnte. Und auf dem Wege meiner Bemühung um Heilung sind mir viele Geschenke zuteilgeworden, die mein Leben in zuvor nicht vorstellbarer Weise bereichert haben.‘

Hilfreich dabei ist natürlich, wenn wir darauf vertrauen, dass wir tatsächlich etwas bewirken können. Der feste Glauben an unsere Selbstwirksamkeit wird unsere Bemühungen tragen und uns darin bestärken, weiter zu machen, wenn uns Zweifel kommen und uns resignieren lassen wollen. Auch hier nützt es uns, die ‚Rüstung der Geduld’ zu tragen, die uns unterstützt und motiviert, auch beim Ausbleiben schneller Erfolge dran zu bleiben. Und sobald sich Erfolge einstellen, ermuntert uns das, den eingeschlagenen Weg mit frischem Mut weiter zu gehen. Lösen wir uns also von einem Modell schicksalhaften Entstehens und Erdulden Müssens unserer Symptome und wenden uns einem aufgeklärten Selbstwirksamkeitsmodell zu.

Das Gefühl des Versagens und der Niederlage, das unser gekränkter Stolz vielleicht mit dem Aufkommen des Symptoms bewusst oder unbewusst erlebte, kann verschwinden, wenn es uns gelingt, das Ganze als Herausforderung zu sehen und uns dieser Herausforderung mutig und mit Ausdauer zu stellen. Wir können das bislang offenbar ohne unser bewusstes Zutun erlittene Geschehene so zu einer Heldengeschichte umwerten, in der wir uns dem Abenteuer der Selbsterkundung und Ganzwerdung stellen. In der Tat ist jede Krankengeschichte, die mit dem glücklichen Ausgang der Heilung endet – sei dies nun die körperliche Gesundung oder auch ein seelisches Heilen ohne dass es zur Überwindung der körperlichen Erkrankung kommt – eine Heldengeschichte. So viele Menschen, die uns in ihren Schilderungen einen Einblick in ihre inneren Erfahrungen bei der Überwindung einer schweren Krankheit gewährt haben, berichten voller berechtigtem Stolz und innerlich gereift von ihrer Reise. Wir können von ihnen lernen. Verlassen wir also unsere Opferposition und machen wir uns auf zu unserer ganz eigenen Heldenreise.

 

 

 

 

Zitierte und weiterführende Literatur:

 

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