17 Schmerz lindern (1)

„Das müssen die Menschen wieder lernen, dass alle gesundheitlichen Störungen, Wehwehchen und selbst alle Infektionen in Wahrheit Winke sind, das Angemessene, die Balance des Gleichgewichts, wiederzugewinnen.“ (Hans-GeorgGadamer)
„Begrüße jede Erfahrung – ob gut oder schlecht – als willkommene Gäste; bewirte sie; erweise jedem Gast die Ehre.“ (Rumi)

Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Artikels:

Ich beschreibe sieben Einsichten im Umgang mit chronischen Schmerzen, die das hauptsächliche Thema des Aufsatzes sind. Der Aufsatz ist in drei Teile gegliedert.
Im ersten Teil geht es neben einer allgemeinen Einführung um diese drei Einsichten: 1. Unbewältigte leidvolle seelische Erfahrungen sind oft der Hintergrund für chronische Schmerzzustände. 2. Der Zusammenhang zwischen Organschädigungen und unserem Schmerzerleben und vice versa ist keine einfache 1 zu 1 – Beziehung. 3. Schmerzen haben stets einen emotionalen, einen mentalen und einen Körperempfindungs-Aspekt. Daher können wir unser Schmerzerleben auch durch die Arbeit auf jeder einzelnen dieser Ebenen verändern.
Im zweiten Teil werden einige Möglichkeiten der Selbsthilfe bei Schmerzen besprochen und die folgenden Einsichten erläutert: 4. Schmerz zeigt eine Blockade unseres Lebensflusses an. Er ist ein verzweifelter Schrei des Körpers nach fliessender Energie. 5. Es gibt immer Bereiche im Körper, die sich schmerzfrei oder sogar gut anfühlen.
Im dritten Teil werden zwei weitere Einsichten erläutert: 6. Sanftheit ist der wesentliche Schlüssel zum Umgang mit Schmerzen. 7. Achtsame Erkundungen unserer Schmerzzustände tun uns gut. Darüber hinaus wird ein metaphorisches Modell zur seelischen Dynamik von bestimmten Schmerzzuständen vorgestellt.

1. Einführung: Einige Grundgedanken

Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat uns über die Verborgenheit der Gesundheit belehrt. Im gesegneten gesunden Zustand werden wir uns unseres Körpers oft gar nicht gewahr, weil er eben einfach so gut vor sich hin funktioniert. Dieses stille und geschmeidige Funktionieren unseres Körpers nehmen wir als Selbstverständlichkeit an, ohne uns dessen gewahr zu sein. Schmerzen sind nun Irritationen in diesem Raum selbstvergessener Funktionstüchtigkeit und Gesundheit. Mit ihrem Auftauchen wird uns bewusst, was wir bis dahin als gegeben hinnahmen und dass dieses erst einmal verloren scheint. Darauf reagieren wir mit Ablehnung. Niemand mag Schmerzen.

Doch Schmerzzustände sind in westlichen Zivilisationen wie der unseren äußerst stark verbreitet. Das zeigt sich bereits sehr deutlich, wenn wir nur die beiden häufigsten Schmerzleiden in unserer Gesellschaft, das sind Kopfschmerzen und Rückenschmerzen, betrachten.

In einem jüngeren Aufsatz im „Hamburger Ärzteblatt˜ wird die 1-Jahresprävalenz – das ist die tatsächliche Auftretenshäufigkeit im Zeitraum eines Jahres – für Rückenschmerzen in der deutschen Bevölkerung im Jahr 2015 mit 76 Prozent angegeben (Lühmann et al. (2015), S. 12). Das sind immerhin drei Viertel aller Deutschen. In der Statistik der Betriebs­kranken­kassen für das Jahr 2014 sind Rückenschmerzen nach dem Bluthochdruck die am zweithäufigsten vergebene Einzeldiagnose (ebd.).

Kopfschmerzen sind ebenfalls epidemisch verbreitet. 29 Millionen Deutsche sollen laut einem Bericht des SPIEGEL aus dem Jahr 2014 an Spannungskopfschmerzen leiden. Als Ursachen nennt der SPIEGEL-Aufsatz eine Schwächung des Schmerzabwehrsystems im Hirnstamm durch ständige kleinere Schmerzreize aus Muskulatur und Wirbelsäule (Hackenbroch (2014), S. 214), für deren Linderung Pausen bei der Arbeit, Bewegung an der frischen Luft und Entspannungsübungen vorgeschlagen werden. Dazu kämen 21 Millionen Menschen mit Migräne. Auch hier werden die Ursachen im Lebensstil der Person vermutet, der durch Unausgeglichenheit charakterisiert sei. Die Therapieempfehlungen ähneln denen, die für Spannungskopfschmerzen benannt wurden. Zusätzlich wird die prophylaktische Einnahme von Beta-Blockern empfohlen. Im Schnitt spüre jeder Betroffene seine Schmerzen an mehr als 30 Tagen pro Jahr (Hackenbroch ebd.). Rund 2,3 Millionen litten sogar an mehr als 180 Tagen im Jahr an sogenannten Dauerkopfschmerzen. Immerhin ließe sich für 1,5 Millionen Menschen aus der letzteren Gruppe eine genaue Ursache benennen, was ansonsten nicht so einfach sei: Sie werden auf die zu häufige Einnahme von Kopfschmerzmedika­menten (!) zurückgeführt (ebd., S. 128). (Anm.1)

Patrick Wall, ein führender Wissenschaftler in der Schmerzforschung, sieht im Schmerz einen „Bedürfniszustand wie Essen und Trinken“, der unsere Aufmerksamkeit erfordert. Doch welche Art der Aufmerksamkeit ist hilfreich? Der Sufi-Mystiker Rumi lädt uns in seinem Gedicht „Das Gasthaus“, aus dem das obige Zitat stammt, dazu ein, jede Erfahrung, die wir machen – also auch unsere Leiden mit und an diesem Leben – als willkommene Gäste zu behandeln. Wenn Schmerz also ein „Bedürfniszustand“ ist, wie können wir dann gute Gastgeber für dieses Bedürfnis sein? Wie könnte man mit den Bedürfnissen dieses besonderen Gasts umgehen; wie könnte man ihn bewirten, so dass er zufrieden ist und damit auch wir wieder in Frieden sind? Und wichtiger noch: Es ist leicht, Gäste wie Glück und Freude willkommen zu heißen. Aber kann uns das wirklich gelingen, wenn der Gast den Namen ‚Schmerz‘ trägt? Sind wir dazu bereit, diesen schwierigen Gast mit unserer Gastfreundschaft auch noch zu ehren? Kann uns das auch dann gelingen, wenn dieser Gast sich in uns häuslich niedergelassen hat, schon Monate und Jahre bei uns wohnt und keine Anstalten unternimmt, wieder zu gehen? Das genau ist ja die harte Wirklichkeit für die vielen Menschen, die an chronischen oder immer wiederkehrenden Schmerzen leiden.

Welche Gedanken und Übungen mögen hilfreich sein, um deren alltägliche Pein zu lindern – das ist die Frage, mit der ich mich hier vor allem beschäftigen will. Denn „am Ende geht es immer darum, dass der Patient wieder die Kontrolle über seine Schmerzen bekommt […] dass er das Ruder wieder selbst in die Hand nimmt“ wie es der Leiter der Kieler Schmerzklinik, Hartmut Göbel, formuliert (vgl. Hackenbroch (2014), S. 131). In diesem Aufsatz werde ich mich also auf das Verständnis und die Selbsthilfe bei chronischen bzw. immer wiederkehrenden Schmerzzuständen, für die es oft keine organpathologische Erklärung gibt, konzentrieren. Ich tue dies in der Hoffnung, dass es Ihnen helfen möge, etwas mehr Selbstwirksamkeit im Umgang mit ihren Schmerzen zu erleben.

Wir alle suchen nach Glück und wollen Schmerz tunlichst vermeiden. Insofern ist es ein natürlicher Reflex auf das Erleben von Schmerzen, sie sofort wieder loswerden zu wollen. Der unliebsame Gast möge verschwinden und nie wieder bei uns vorstellig werden. Schmerzmedikamente erscheinen da vielen Zeitgenossen als die ersten Mittel der Wahl. Schmerzlindernde Arzneimittel, die ohne Rezept zu bekommen sind, sind Bestseller unter den Medikamenten. Paracetamol, Ibuprofen, Aspirin, Diclofenac und Naproxen – das sind die fünf häufigsten Schmerzmittel – und ähnliche Wirkstoffpräparate sind zu alltäglichen Begleitern der Menschen in westlichen Gesellschaften geworden. Rund drei Milliarden Einzeldosen an Schmerzmitteln seien 2010 in Deutschland verkauft worden. Davon entfielen allein 85 Prozent auf Kopfschmerztabletten. Acht Millionen Deutsche hätten im Jahr 2010 an jedem einzelnen Tag eine Tablette gegen Kopfschmerzen zu sich genommen (Hackenbroch, S. 130). Diese Zahlen dürften seither eher gestiegen sein. „In Deutschland hat der Umsatz rezeptfreier Schmerzmittel inzwischen eine Milliarde Euro überschritten.“ (Hontschik 2018, S. 29) Die Mittel waren keineswegs schon immer frei verkäuflich. Sie seien dies erst nach einem „jahrelangen Lobby-Druck der Pharmaindustrie“ (Hontschik, ebd.) geworden. Das ist hochproblematisch und im Grunde unverantwortlich.

Dr. Bernd Hontschik ist ein Chirurg aus Frankfurt (Main), der sich immer wieder kritisch zu den Auswüchsen unseres Gesundheitssystems äußert. Er weist darauf hin, dass der durch die freie Zugänglichkeit der Schmerzmittel naheliegende Schluss , sie seien ja „rezeptfrei, also harmlos“ eine „fatale Suggestion“ (Hontschik, ebd.) sei. Und er stellt eine Verbindung zu den vielen Drogentoten in den USA her – allein 64.000 im Jahr 2016 in den USA, was Präsident Trump zur Ausrufung eines „Gesundheitsnotstands“ bewogen habe – für die diese frei zugänglichen Schmerzmittel häufig eine Art Einstiegsdroge in ihre Suchtkarriere gewesen seien (Hontschik, ebd.).

Die Werbung der Pharmaunternehmen verspricht schnelle Linderung. Diese tritt auch oft genug ein – nicht selten aber auch nicht. Selbst wenn wir nun aber einmal die Nebenwirkungen dieser Stoffe (wie z.B. Leber- und Nierenschädigungen oder durch die Medikamenteneinnahme erst hervorgerufene Schmerzen) unberücksichtigt lassen (2) und für einen Moment vergessen wollen, dass sich die Wirkung dieser Mittel zum Grossteil unserer festen Erwartung verdanken mag, dass sie helfen werden – also dem Placeboeffekt (3) – so bleibt die Frage, ob das langfristig eine kluge Vorgehensweise ist? Wäre es nicht wichtiger, sich an die wesentliche Einsicht zu erinnern, die besagt, dass all unsere Symptome, also auch unsere Schmerzen, kreative Lösungen unseres Gesamtorganismus sind, die ihren Sinn und ihren Hinweischarakter haben? Diese Hinweise zu ignorieren bzw. mittels Selbstmedikation immer wieder zum zeitweiligen Verstummen zu bringen, halte ich für ein zwar erst einmal völlig verständliches, aber auf Dauer problematisches und potenziell die eigene Gesundheit gefährdendes Verhalten.

Denn Schmerzen haben wichtige Funktionen für uns. Sie sind komplexe Informationsträger. Schmerzen sind zunächst einmal deutliche Signale dafür, dass etwas in uns nicht in Harmonie ist. Sie gleichen den roten Warnlampen an technischen Gerätschaften, die anzeigen sollen, dass etwas nicht stimmt. Bildlich gesprochen: Ein störender Gast hat sich eingenistet, scheinbar ohne unser Wollen oder Wissen. Akute Schmerzen haben zudem eine Schutzfunktion, insofern sie uns deutlich zeigen, was gefährlich für uns ist; wir werden die heiße Herdplatte vermutlich nicht ein zweites Mal anfassen. Das könnte man als ein Geschenk unseres Gastes ansehen, wenn wir gewillt wären, auch das Gute in ihm anzuerkennen. Schmerzen haben weiterhin auch einen motivationalen Aspekt. Sie fordern uns zum Handeln auf. Schmerzen drängen uns dazu, ihrer Ursache auf den Grund zu gehen und Abhilfe zu schaffen. Wo kommt dieser Gast her? Und warum besucht er uns? Was haben wir mit ihm zu schaffen? Was können wir tun, um ihn so schnell wie möglich wieder loszuwerden? Schmerzen gehen auch mit einem sozial-kommunikativen Aspekt einher. Sie drängen danach, ausgedrückt zu werden, denn geteiltes Leid ist halbes Leid, wie der Volksmund so richtig sagt. Wenn wir anderen Menschen von unseren Schmerzen erzählen, so schwingt oft ein Appell an ihr Mitgefühl und ihre fürsorgliche Anteilnahme mit. Wir erleben vielleicht sogar das praktische Tätigwerden anderer Menschen, indem sie uns beispielsweise zuhören, wenn wir unser Leid klagen, unsere Wunde versorgen, uns ein Süppchen kochen oder Medikamente aus der Apotheke besorgen.

Es tut uns allen gut, nicht mit diesem Gast allein sein zu müssen.

Schmerzen gehen uns alle an und wir alle haben in unserem Leben dann und wann damit zu tun. Von Goethe wissen wir, dass er sich an keinen Tag in seinem Leben erinnern konnte, an dem er nicht Schmerz empfunden habe (vgl. Gadamer, S. 170). Auch wenn das auf uns vielleicht nicht zutreffen mag, so gilt doch: Niemand geht völlig unbeschadet durch dieses Leben. Es gehört zu den Grundtatsachen des Lebens, dass wir Verletzungen und Schmerz erfahren werden. Buddha hat diese Erkenntnis der Unvermeidbarkeit von Schmerz und Leid zur Formulierung seines edlen achtfachen Pfads zur Überwindung des Leids bewogen.

1.1 Einige Unterscheidungen

Schmerzen sind zunächst unspezifische Signale. Wenn wir Schmerz empfinden, wenn etwas weh tut, wissen wir in der Regel erstmal nicht (es sei denn, die Ursache ist offenkundig wie bei einer bereits diagnostizierten Tumorerkrankung oder einer Unfallverletzung), ob er ein Hinweis auf eine organische Störung oder Schädigung ist oder eher ein Hinweis auf Trauer und Verlust bzw. ein seelisches Trauma.

In jedem Falle empfiehlt sich als erstes eine medizinische Abklärung. Wenn sich bei der ersten Untersuchung keine Organschädigung zeigt, Sie der Diagnose aber misstrauen sollten, ist es sinnvoll, eine zweite Meinung einzuholen und eine weitere ärztliche Untersuchung durchzuführen. Sollte dann aus medizinischer Sicht weiterhin keine Organpathologie erkennbar sein, ist es empfehlenswert, dies anzuerkennen. Es scheint mir eher schädlich, dann auf weiteren Untersuchungen zu beharren, weil keine ärztliche Untersuchung frei von Risiken und eine jede belastend ist. Denken Sie nur an die Strahlenbelastung z.B. bei einer Mammographie, die Verletzungsgefahr bei einer Punktion zur Entnahme von Körperflüssigkeiten oder -gewebe oder auch die Gefahr falsch positiver Diagnosen, die mit häufigeren Untersuchungen zunimmt. Bedenken Sie auch die Gefahren der Überdiagnostik: Viele Tumore, die bei einem großen Screening in der Bevölkerung entdeckt würden, verschwinden nachweislich auch wieder von alleine. Werden Sie jedoch entdeckt, könnten sie medizinische Maßnahmen nach sich ziehen, die durchaus schädlich sein können. Wenn es also keine organpathologische Erklärung für Ihre Schmerzen geben sollte, dann wäre mein Rat, sich darüber einfach zu freuen. Es ist gut, weil es bedeutet, dass die Problematik zwar wirklich gegeben ist – immerhin haben Sie weiter Schmerzen – doch ist sie nicht so tiefgehend und massiv, dass Ihr Körper bereits Schaden genommen hat. 

Bevor ich nun tiefer in die Diskussion einsteige, scheint es mir gut, einige Unterscheidungen zu betrachten. Wir können grob körperliche und seelische Schmerzen unterscheiden. Körperliche Schmerzen erleiden wir in der Regel dann, wenn unsere körperliche Unversehrtheit Schaden genommen hat. (Wie wir unten noch sehen werden, ist ein Körperschaden jedoch keineswegs eine notwendige Voraussetzung für im Körper erlebte Schmerzen!) Seelische Schmerzen haben mit dem emotionalen Leiden zu tun, das mit unseren Erfahrungen von Verlusten, Kränkungen, Enttäuschungen, Versagungen, Misserfolgen und Ähnlichem – bis hin zu traumatischen Erfahrungen – in unserem Leben verbunden ist.

Es handelt sich um eine sehr grobe Unterscheidung, weil wir eine psychosomatische Einheit sind. In dieser Einheit hängt alles mit allem zusammen. Und alles wird vom Prinzip permanenter Wechselwirkungen bestimmt. Eine körperliche Verspannung kann der tragende physische Boden sein, auf dem eine psychische Einstellung aufruht. Ein psychischer Glaubenssatz kann umgekehrt massive körperliche Verspannungen nach sich ziehen. Körperliche Beschädigungen können mit seelischem Leid einhergehen und seelisches Leiden wie etwa depressives Ohnmachtserleben kann sich massiv körperlich auswirken, etwa auf unsere Stressphysiologie: Depressives Erleben ist trotz des äußeren Anscheins der Immobilität in physiologischer Hinsicht ein Hochstresszustand.

Insgesamt ist die klassisch schulmedizinische Trennung zwischen Psyche und Körper, die mit dem französischen Philosophen Descartes im 17. Jahrhundert begann, ein nur noch historisch erklärbares Relikt, das sich in keiner Weise mit heutigen Forschungsergebnissen deckt. Die mechanistische Maschinenmetapher für den menschlichen Körper mit all ihren Implikationen ist schlicht und einfach ein wissenschaftlich überholter Anachronismus. Auch die heute gebräuchliche Computermetapher vom Körper als Hardware und Psyche/Geist als Software ist sehr fehlerhaft. Oder kennen Sie einen Computer, dessen Software in der Lage ist, seine Hardware umzubauen, wie das die menschliche Psyche mit dem Körper zweifellos kann?

Es ist darüber hinaus sinnvoll, eine Unterscheidung zwischen akuten und chronischen Schmerzen zu treffen, auch wenn die Übergänge zwischen beiden Zuständen unscharf und fliessend sind. Wir haben akute Schmerzen, wenn wir uns den Kopf stoßen oder uns schneiden, wenn wir uns ein Bein brechen, ein Norovirus in unseren Gedärmen wütet oder wir etwas Giftiges zu uns genommen haben. Akute Schmerzen durchleiden wir bei Unfällen, Verbrennungen, Vergiftungen oder eben auch dann, wenn unser Körper uns z.B. mit Hilfe von vorübergehenden Bauch- oder Kopfschmerzen wissen lässt, dass da etwas im Argen ist. Akute Schmerzen lassen wieder nach und gehen vorüber, wenn die Ursache des Schmerzes verschwunden und vergangen ist. Chronische Schmerzen haben hingegen die Eigenschaft, zu bleiben, auch wenn keine offensichtlichen Ursachen mehr vorhanden oder erkennbar sind. Chronische Schmerzen sind oft genau dann rätselhaft, wenn keine organischen oder sonstigen Hintergründe dafür wahrnehmbar sind. Während akute Schmerzen oft monokausal bewirkt sind, kann man bei chronischen Erkrankungen – also auch bei chronischen Schmerzzuständen – von einem multifaktoriellen Geschehen ausgehen. Vieles wirkt zusammen, um diese Zustände hervorzubringen.

Gesellschaftliche Hintergründe für das epidemische Ausmaß von Schmerzuständen will ich hier nur durch Verweis auf einige allgegenwärtige gesellschaftliche Phänomene andeuten. Ein zentrales Phänomen lässt sich als eine spezifische Selbstbeziehung beschreiben, die das moderne westliche Verhältnis von Selbst und Körper definiert. Prof. Dr. Hartmut Rosa, der wohl bedeutendste deutsche zeitgenössische Soziologe, spricht davon, dass der Selbstoptimierungsdruck, dem wir alle mehr oder minder unterliegen, mit einer „Verdinglichung des Selbstverhältnisses“ einhergehe: „Die Schnittstelle zwischen Körper und Selbst wird instrumentalisiert zum Zwecke der Steigerung des Körperkapitals … dies scheint mir eine weit intimere und radikalere Form der Verdinglichung zu sein als die äußere Zurichtung des Körpers, weil sie auch die psychischen und die Willensressourcen des Subjekts in den Verdinglichungsprozess miteinbezieht.“ (Rosa (2016), S. 177). Mit der „Instrumentalisierung des eigenen Körpers“ zur Leistungssteigerung oder Imagepflege und seiner „Verfügbarmachung als Ressource“ (Rosa, ebd., S. 178) verstärke sich das „Potenzial für leibliche Selbstentfremdung“ (Rosa, ebd., S. 179).

Auch ausgeprägte sozioökonomische Ungleichheiten, die in unserer Gesellschaft so typisch sind, bergen ein Schmerz- und Krankheitspotential in sich, ebenso wie Individualisierung, Leistungs- und Konkurrenzdruck und die mangelnde Teilhabe am sozialen Leben bei Arbeitslosigkeit oder Armut.

Schließlich macht es Sinn, unser evolutionäres Gewordensein im Hinblick auf unseren jetzigen Lebensstil zu betrachten: In den gut 200.000 Jahren, seit wir als Homo sapiens sapiens auf der Erde existieren, haben wir dies meist draußen in engem Kontakt mit der Natur, mit Erde, Sonne, frischer Luft und Wasser und eben nicht eingeschlossen in mehr oder minder dunklen Gebäuden getan. Außerdem mussten wir uns schon zum Zweck der Nahrungsbeschaffung ziemlich viel bewegen. Arbeitsplätze, an denen wir sitzen, wie dies heute die Regel ist, kamen praktisch nicht vor. Sitzen am Arbeitsplatz, Sitzen im Fernsehsessel – für Prof. Dr. Jörg Spitz, unter anderem Präsident der Gesellschaft für Biologische Krebsabwehr, sind das nicht-artgerechte Aspekte unseres Lebensstils, die die Ausbreitung von Krankheiten befördern (Spitz (2017).

Chronische Schmerzen sind für die betroffenen Menschen eine sehr, sehr große Belastung. Sie können sozial sehr einsam machen; als ein sehr persönliches und ganz subjektives Geschehen sind sie oft schwer mitteil- und beschreibbar. Mangels eindeutiger objektiv messbarer Kriterien für unser Schmerzerleben kann zudem der Verdacht aufkommen, dass man es mit einem Simulanten zu tun hat, der sich einen Vorteil – wie beispielsweise eine Frühverrentung – erschleichen will. Es kann geschehen, dass andere Menschen sich gelangweilt oder genervt abwenden, wenn wir zum wiederholten Mal über unsere nicht enden wollenden Schmerzen klagen. Selbst mit Ärzten oder Therapeuten kann uns das passieren. Chronische Schmerzen können uns hilflos und depressiv bis hin zur Suizidalität machen. Schmerzen tendieren dazu, das innere Erleben zu dominieren und alles andere in den Hintergrund zu drängen. Bei starken Schmerzen schnurrt unsere Wahrnehmung der Welt auf den einen Punkt unseres Schmerzes zusammen. Alles andere zählt nicht mehr. Das ganze Leben kreist nur noch um den zentralen Fokus der Schmerzen.

Chronische Schmerzen führen oft zu einer Ablehnung und Abwehr des Körpers, weil der Körper zum Ort der Qualen geworden ist. All das, was in unserem Körper dazu dienen könnte, uns Lust und Freude zu bereiten, gerät unter der Vorherrschaft des Blicks auf die alles überschattenden Schmerzen in Vergessenheit. Schmerzen, die lange persistieren, können unsere Lebensfreude gravierend beinträchtigen.

Deshalb ist alles gut, was uns auch nur ein wenig dabei helfen kann, uns aus der Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht gegenüber den Schmerzen zu lösen und uns anders als schmerzerfüllt zu erleben. Achten Sie dabei bitte auf die Formulierung ‚ein wenig‘. Sie ist wichtig. Denn es ist einerseits verständlich, andrerseits sehr kontraproduktiv beim Umgang mit chronischen Schmerzen in „Alles-oder-Nichts“-Kategorien zu denken. Letzteres gilt sogar als ein Risikofaktor für die Schmerzchronifizierung (vgl. Soyka (2019), S. 25). Erwarten Sie also keine 0 oder 1 – Lösungen. Natürlich ist die Sehnsucht nach völliger und schnell erreichbarer Schmerzfreiheit menschlich verständlich. Aber: Sie ist so nicht einfach realisierbar, egal, was Ihnen die Pharmaindustrie oder sonstige Heiler und Propheten völliger Schmerzfreiheit versprechen mögen. Der Arzt, Klinikleiter und systemische Hypnotherapeut Dr. Gunter Schmidt spricht in diesem Zusammenhang davon, dass Therapeuten nur ein „Zweitbestes“ anbieten können: eine eventuelle Linderung der Schmerzen. Das gilt auch für die Selbsthilfe. Üben Sie sich daher darin, den folgenden Gedanken zu akzeptieren: Jeder Gedanke und jede Technik, die dabei nützt, ein klein wenig mehr Kontrolle über die Schmerzen zu bekommen, ist gut.

1.2 Seelischer Schmerz und körperlicher Schmerz

Seelische Schmerzen können besonders dann sehr massive Auswirkungen haben und sehr intensiv sein, wenn sie einen traumatischen Hintergrund haben. Wenn wir etwas Traumatisches erlebt haben (Missbrauch, Misshandlungen, Vergewaltigung, schwere Vernachlässigung etc.), dann wurden die Grenzen unseres psychischen Fassungsvermögens überschritten. Unser psychischer Apparat war dann nicht in der Lage, das Geschehene zu verstehen, zu verarbeiten, und zu integrieren. Unerträglicher seelischer Schmerz entsteht also in der Folge von Ereignissen, die eine solch große Herausforderung für uns bedeuten, dass die seelische Verarbeitungskapazität unseres Ich-Bewusstseins dadurch überfordert wird. Ein drastisches Bespiel: Für ein Kind ist der sexuelle Missbrauch durch eine erwachsene Person weder verstehbar noch integrierbar. Es gibt keine Möglichkeit, das hochemotional aufgeladene Geschehen sinnvoll einzuordnen und zu verdauen. Das Kind findet für die innere Not keine Lösung. Unerträglicher seelischer Schmerz ist die Folge.

Der Psychoanalytiker Andre Green meint, dass es für uns Menschen drei Arten gäbe, mit unerträglichem seelischem Schmerz umzugehen: Er kann uns erstens in den Wahnsinn treiben. Wir durchleben die psychotische Auflösung unseres gewohnten realitätstüchtigen Ich-Bewusstseins und bedürfen psychiatrischer Hilfe. Er kann zweitens in zwanghaftes Agieren münden, wie dies z.B. bei süchtigem Gebrauch einer uns schädigenden Substanz der Fall sein kann. Ein dritter Weg, mit unerträglichem seelischem Schmerz umzugehen, besteht darin, ihn dem Körper aufzubürden. Wir behelfen uns damit, das schlimme Ereignis und unsere körperlich-geistig-seelische Reaktion darauf aus unserem Bewusstsein zu verbannen und in die unbewussten Schattenbereiche unseres Körpers abzudrängen. Unser braver Bruder Esel – wie Franz von Assisi den Körper genannt hat – trägt diesen Schmerzkomplex als schwere Last weiter mit sich, tagein, tagaus.  Was bewusst nicht integrierbar ist, wird also – vergleichbar einem Menschen mit ansteckender Krankheit, der auf die Quarantänestation eines Krankenhauses verlegt wird, um seine Mitpatienten so von ihm abzuschirmen und vor Ansteckung zu bewahren – isoliert vom Bewusstsein des betreffenden Menschen. Bei Traumata können die Beschädigungen so intensiv sein, dass wir sie nur mit Hilfe der Abspaltung bzw. Dissoziation ertragen können: Unser Bewusstsein hat sich davon gelöst. Das Geschehen bleibt jedoch in einer Art „Traumablase“ im Gehirn und als ein spezifisches Spannungsmuster im Körper aufbewahrt, um die herum das Leben des betroffenen Menschen organisiert wird.

Doch auch bei weniger tragischen Ereignissen können wir Abwehrmechanismen entwickeln und für uns nutzen. Wir könnten beispielsweise bei unserem Aufwachsen häufige unangemessen strenge Bestrafungen, doch keine Misshandlungen im eigentlichen Sinne erlebt haben, mit denen wir umgehen mussten. Ein Weg mit diesen immer wiederkehrenden Minitraumata wäre zum Beispiel das, was die Psychoanalytiker die ‚Identifikation mit dem Angreifer‘ nennen: Wir strengen uns an, so zu werden, wie der strenge Elternteil es will und verringern dadurch die Wahrscheinlichkeit von Bestrafungen. In diesem Prozess opfern wir unmerklich unsere eigenen autonomen Lebensimpulse, die ins Unbewusste abgedrängt werden. Der Poet Robert Bly hat für den Auslagerungsort unserer autonomen Strebungen mit Hilfe dieses und anderer Schutzmechanismen das Bild eines „kleinen schwarzen Beutels“ gefunden, in den wir all unsere Anteile stopfen, von denen wir befürchten, dass sie uns bei unseren wichtigen Mitmenschen, wie etwa unseren Eltern, in Misskredit bringen würden. Später lagern wir dort alle unsere Anteile aus, die wir an uns ablehnen. Irgendwann haben wir vergessen, dass der Beutel überhaupt existiert. (Vgl. Kabat-Zinn (2013), S. 13) Doch die Inhalte des Beutels bleiben vorhanden. Die moderne Hirnforschung lehrt uns, dass sich im Gehirn nichts löschen lässt. Unser Gedächtnis, sei es bewusst oder unbewusst, hat die erstaunliche Fähigkeit, emotional bedeutsame Situationen als solche aufzubewahren, auch wenn sie schon lange aus unserem Bewusstsein verschwunden sein mögen.

Der Arzt und Psychoanalytiker Wilhelm Reich, der bei Sigmund Freud lernte, sich später von ihm löste und der wichtigste Vater der heutigen Körperpsychotherapieverfahren wurde, beschreibt unter vielen anderen eine Technik, die wir als Kinder wohl alle eingesetzt haben, um unerwünschte Gefühle und Empfindungen wegzudrängen. Reich nannte es die „Bauchpresse“: Bei unangenehmen Empfindungen im Bauch – für die Griechen waren die Eingeweide der Sitz der verletzlichen Gefühle in uns – konnten wir den Bauch einziehen und so eingezogen eine Weile in dieser Position halten. Das führte dazu, dass das Unangenehme weniger fühlbar wurde. Wir ahnten dabei natürlich nicht, welche Folgen das für unsere Körperorganisation hatte: Auf Dauer führte der Einsatz der Bauchpresse zu einer Verringerung unserer muskulär-faszialen Schwingungsfähigkeit und zu einer Einschränkung unseres Atemvolumens, da unser Hauptatemmuskel, das Zwerchfell, mit in die Bauchpresse hineingezogen wurde. Zusammen mit anderen Körpertechniken, die unserer Angstbewältigung und der Regulierung innerer Spannungszustände dienen sollten, bauten wir uns so in Abhängigkeit von unseren mehr oder minder guten oder mehr oder minder schlechten Erfahrungen unmerklich und allmählich einen Körperpanzer auf, der auch nach dem Verschwinden der äußeren Ursachen seiner Entstehung erhalten blieb. Er gleicht einem Mantel, den wir in kalten Wintertagen angezogen haben. Als die Zeit verging, vergaßen wir, warum wir den Mantel angezogen haben und wissen nicht einmal mehr, dass wir ihn noch tragen. Der Körperpanzer sicherte unser Überleben, doch er reduzierte auch unsere Lebendigkeit und unser Ausdrucksvermögen.

Dieser Körperpanzer beeinflusst die Funktionsweise all unserer Körpergewebe bis hinab in jede einzelne Zelle. „The issues are in the tissues“, wie es auf so unnachahmlich kurze und prägnante Art und Weise in englischer Diktion gesagt werden kann: Die Lebensthemen, die für uns bedeutsam sind, wohnen in unseren Körpergewebe

Bei schweren Dissoziationen infolge eines Traumas können wir Zustände der Depersonalisierung oder Derealisierung erleben; d.h. wir verlieren den Kontakt mit unserem gewohnten Selbsterleben und fühlen uns außerhalb oder getrennt vom Körper oder haben das schreckliche Gefühl einer beängstigenden Unwirklichkeit.

All die abgespaltenen und abgedrängten Aspekte behielten jedoch Macht über unseren Körper. Das ist wesentlich zu verstehen: Das innere Kind hat einen Körper! Die Vergangenheit lebt darin weiter. Spannungszustände und Schmerzen, die wir in der Gegenwart spüren, verdanken sich in gewisser Weise dem gleichzeitigen Wirken unseres unerlösten Kinderselbsts und unseres Erwachsenenselbsts im Hier und Jetzt. Deshalb sind Aussagen wie: ‚Die Vergangenheit ist vorbei!‘ und alle daraus abgeleiteten Empfehlungen wie: ‚Lass die Vergangenheit endlich los und schau nach vorne!‘ auch nur teilweise wahr bzw. förderlich.

Chronische Schmerzen und Erkrankungen können als Folgen unserer Abspaltungen und Verdrängungen entstehen. Die Forschung hat beispielsweise gezeigt, dass Kinder, die geschlagen oder anderweitig misshandelt werden, eine viel höhere Wahrscheinlichkeit haben, später an chronischen Schmerzzuständen zu leiden. Aber auch andere Erkrankungen können sich herausbilden: „Frühe Stresserfahrungen, traumatische Erlebnisse, und emotionale Vernachlässigung in der Kindheit korrelieren mit dem späteren Auftreten von körperlichen Erkrankungen wie Herz-Kreislauferkrankungen, Typ 2 – Diabetes, Hepatitiden, chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD), immunologischen Erkrankungen und Schmerzerkrankungen (Hervorhebung von mir, P.F.), Pharynx- und Lungenkarzinom und gehen mit einer eingeschränkten Lebenserwartung einher.“ So fasst es die Klinikärztin M. Hagemann-Goebel (2017, S. 1764) zusammen.

Prof. Dr. Rolf Adler nennt mit Verweis auf Erkenntnisse in klinischen Studien folgende häufigen biographischen Hintergründe für eine höhere Neigung zu Schmerzen: „Eltern sind gegenseitig verbal oder körperlich brutal. Eltern sind gegenüber dem Kind brutal. Ein Elternteil ist dominierend, der andere unterwürfig. Eltern strafen oft und zeigen anschließend Reue mit großer Zuneigung zum Kind. Eltern sind kalt und ablehnend, außer wenn das Kind krank oder verletzt ist. Das Kind schädigt sich selbst, damit sich die Eltern ihm zuwenden. Das Kind lenkt die Aggressionen der Eltern gegeneinander auf sich. Eltern haben Krankheiten und Schmerzen, für die das Kind sich verantwortlich fühlt und mit Schuldgefühlen reagiert. Heftige Bestrafung des Kindes für aggressionsbetontes Verhalten. Sexuelle Misshandlung des Kindes.“ (Adler ebd., S. 230f)

Die 1919 geborene Orthopädin Hildegund Heinl hat in einem sehr lesenswerten Buch (mit Peter Heinl) zahlreiche Fallgeschichten zusammengetragen, die den engen Zusammenhang von Körper- und Seelenschmerz belegen. Für die klassisch medizinisch ausgebildete Ärztin sei das Erkennen dieser Zusammenhänge sehr überraschend gewesen, wie sie schreibt. Sehr oft fand sie traumatische Kindheitserfahrungen in den Biografien ihrer Schmerzpatienten, die an Symptomen wie Weichteilrheumatismus, Schulter-Armschmerz, chronischen Rückenschmerzen, Fibromyalgie und ähnlichem litten. Chronische Schmerzzustände können aber auch mit später in der Lebensgeschichte aufgetretenen Traumata verbunden sein. Sie erzählt etwa die Geschichte eines 62-jährigen Patienten, der beim Erstgespräch angegeben habe, seit 25 Jahren an schmerzhaftem Weichteilrheumatismus zu leiden. Die Schmerzen träten immer im Winter auf. Ihre sorgfältige Untersuchung der Auslöser ergab, dass der Mann einige Jahre in sibirischer Kriegsgefangenschaft verbracht hatte und die Schmerzen zum ersten Mal nach der Rückkehr in seine Heimat zu Beginn der kälteren Jahreszeiten aufgetreten seien. Sie folgte daraufhin der Hypothese, dass hinter den Schmerzen unbewältigte Erfahrungen von Hunger, Kälte und existenzieller Bedrohung aus der Zeit der Kriegsgefangenschaft lagen. In ihrer einfühlsamen Behandlung öffnete sich der Patient für diese abgewehrten Gefühle und durchlebte Panik und Todesängste: „Er schauderte und zitterte am ganzen Leib. Unerträgliche Rücken- und Gliederschmerzen stellten sich ein. Panik und Todesängste spiegelten sich in seinem Gesicht, als er sich dem Schrecken von Krieg und Gefangenschaft in seinen inneren Bildern wieder gegenüber sah. Seelisch und körperlich durchlitt er die in ihm gespeicherten Erfahrungen, als verfüge sein Körper über ein Gedächtnis für die ihm zugefügten Traumatisierungen.“ (Heinl & Heinl (2004), S. 27). Mithilfe ihrer fürsorglich-zugewandten und technisch versierten Behandlung gelang es diesem Patienten übrigens tatsächlich, seine Schmerzen zu überwinden.

Bei Schmerzen, die gar nicht wieder aufhören wollen, ist es daher sinnvoll, einen möglichen Hintergrund traumatischer seelischer Erfahrungen anzunehmen. In der Regel bilden sie das Fundament dieser Schmerzen. Und angesichts ihrer verheerenden Herkunft in traumatischen Erfahrungen bzw. dem Erleben häufiger Minitraumata überrascht es nicht, dass chronische Schmerzzustände keineswegs einfach zu überwinden sind. Betroffene wissen ebenso wie Schmerztherapeuten darum, wie mühselig, langwierig und kleinschrittig der erfolgreiche Weg zur Besserung sein kann.

Das ist also in Kürze die erste Erkenntnis über chronische Schmerzen, die ich Ihnen nahebringen will: Unbewältigte und leidvolle seelische Erfahrungen sind oft der Hintergrund für chronische Schmerzzustände.

In Schmerzkliniken werden oft neben den körperlichen Risikofaktoren auch psychosoziale Hintergründe für die Entwicklung chronischer Schmerzen erfasst. Ein jüngerer Aufsatz im „Hamburger Ärzteblatt“ nennt für „Kreuzschmerzen“ folgende Faktoren, die geeignet sind, das Schmerzerleben zu verstärken und zu chronifizieren: Depressivität, Distress (vor allem berufs-bzw. arbeitsbezogen), Schmerzvermeidungsverhalten, Hilf- und Hoffnungslosigkeit (z.B. Katastrophisieren), passives Schmerzverhalten (ausgeprägtes Schon- und Vermeidungsverhalten), weitere körperliche Beschwerden ohne erkennbare Krankheitsursachen (Somatisierungstendenz) negative Krankheitsvorstellungen (Lühmann et al. (2015), S. 15).

Sollten Sie selbst an einer chronischen Schmerzsymptomatik leiden, können sich einmal aufrichtig selbst prüfen, ob einer dieser Faktoren bei Ihnen gegeben ist. Neigen Sie zu Depressionen? Worin genau erleben Sie sich hilflos und ohnmächtig und meinen, diese Situation nicht ändern zu können? Was verursacht Ihnen Stress? Neigen Sie zu ausgeprägtem Schonverhalten? Delegieren Sie die Lösung für Ihre Schmerzsymptomatik an Ihren Arzt oder sonstige Experten, die Ihren Schmerz beseitigen sollen? Stellen Sie Ihre körperlichen Bewegungen weitgehend ein, wenn Sie Schmerzen haben? Neigen Sie dazu, sich selbst Angst zu machen, indem Sie sich sagen, dass Sie nie wieder zur Arbeit gehen können und verarmt unter der Brücke landen werden? Lassen Sie sich immerzu helfen bzw. Tätigkeiten von ihren Mitmenschen abnehmen, die Sie mit etwas Anstrengung auch selbst erledigen könnten? Bringt ihr Schmerzleiden vielleicht sogar Vorteile mit sich (wie Entlastung von unliebsamen Pflichten oder zusätzliche Aufmerksamkeit von anderen Menschen), auf die Sie nur sehr ungern verzichten wollen, weil Sie vielleicht nicht wissen, wie Sie sich diese Vorteile auf anderem Wege verschaffen könnten? Fühlen Sie sich Ihren Schmerzen hilflos ausgeliefert? Denken Sie, dass man da gar nix machen könne?

Je häufiger Sie diese Fragen mit Ja beantwortet haben, desto größer ist die Gefahr der Schmerzchronifizierung.

Da Sie nun wissen, dass und wie Sie selbst dazu beitragen können, Ihre Schmerzzustände zu behalten und zu verfestigen, ist es vielleicht in Ordnung für Sie, zu verstehen, durch welche Einstellungen und Prägungen diese Risikofaktoren in Ihnen aufrechterhalten werden. Wie machen Sie das? Welche Gedanken, Einstellungen und Verhaltensweisen nähren den Fortbestand dieser Risikofaktoren? Und falls Sie sehr ernsthaft daran interessiert sein sollten, ihre Schmerzen zu lindern, wovon ich ausgehe, dann könnte es sehr sinnvoll sein, an diesen Einstellungen und Charakteristika zu arbeiten. Das ist gewiss nicht leicht. Aber, so frage ich Sie, rechtfertigt die durchaus begründete Aussicht auf Schmerzlinderung nicht ein gewisses Bemühen?

1.3 Erkenntnisse zur Definition und zur Neurophysiologie des Schmerzes

Die Definition, was Schmerz eigentlich sei, hat sich im Laufe der letzten Jahrzehnte deutlich verändert. Während früher – wieder beginnend mit Rene Descartes – ein sehr enger Zusammenhang zwischen Verletzung bzw. Funktionsstörung und Schmerz behauptet wurde, wird der Zusammenhang inzwischen als nicht mehr so zwingend angesehen. Denn es gibt Menschen mit Schmerzen, die keine organische Verletzung oder Funktionsstörung aufweisen. Es gibt beispielsweise eine erhebliche Anzahl von Menschen mir organisch gesunder Wirbelsäule, die über erhebliche Rückenschmerzen klagen. Bei diesen sogenannten ‚unspezifischen Rückenschmerzen‘, die den Löwenanteil unter allen Rückenbeschwerden ausmachen, müssen es also nicht die berüchtigten Bandscheibenvorfälle sein, die in einer Art 1:1-Logik den Schmerz verursachen. Es gibt darüber hinaus nachweislich Menschen mit ausgeprägten Bandscheibenschäden, die keinerlei Schmerzen empfinden. Bekannt ist auch das Phänomen des Phantomschmerzes: Die betroffenen Menschen leiden dabei an Schmerzen an einem physischen Ort, der so gar nicht mehr in körperlicher Form existiert: Beispielsweise können Menschen Schmerzen an dem Ort erleben, an dem sich früher das inzwischen amputierte Bein befunden hat.

Außerdem ist seit langem bekannt, dass wir selbst bei schwersten Läsionen des Körpers dann keine Schmerzen empfinden, wenn Wichtigeres zu tun ist. Der renommierte Schmerzforscher P. Wall erzählt z.B. von Soldaten, die mitten im Schlachtgetümmel ihre oft schwere Verwundung sehen und auch wahrnehmen, dass da Blut fließt und sie dennoch keinen Schmerz spüren. Das Wichtigere für den Gesamtorganismus in diesem Moment, das sich im bewussten Erleben durchsetzt, ist, alles dafür zu tun, um die Schlacht zu überleben. Erst später, wenn der Soldat im Lazarett angekommen ist, brechen sich die Schmerzen Bahn (vgl. Steinkopf (2016), S. 48 f). Dieses faszinierende Phänomen verdankt sich der Tatsache, dass unser Körper über fantastische eigene Schmerzmittel verfügt, die sehr viel stärker sind als die bekanntesten Schmerzmedikamente. Unser innerer Arzt und Apotheker greift hier automatisch und ohne bewusstes Zutun des Betroffenen auf körpereigene schmerzstillende Opioide – Endorphine genannt – zurück, die unsere Schmerzwahrnehmung für eine Zeitlang überdecken können. Hier sehen wir offenbar eine zentrale Kontrollinstanz unseres Neokortex (siehe unten) in beeindruckender Aktion. Der Arzt und Begründer der modernen Hypnotherapie, Milton Erickson, hatte genau diesen Zusammenhang im Sinn, wenn er seinen Schmerzpatienten die Frage stellte: „Mal angenommen, ein hungriger Tiger wäre jetzt hier im Raum, wieviel Schmerz hätten Sie dann noch?“

Auch unsere Erwartungen an zukünftig drohende Schmerzen und unsere zugehörigen Vorstellungen sind in der Lage unser Schmerzerleben zu beeinflussen. Ängste und Sorgen verschlimmern unsere Schmerzen. ‚Katastrophisieren‘ ist ein bekannter Risikofaktor bei chronischen Schmerzen. Ein letztes Beispiel: Hypnotherapeuten können Menschen dazu bringen, eine Zahnarztbehandlung auch ganz ohne Narkosespritze schmerzfrei zu erleben, indem sie sie innerlich auf andere und angenehmere Erfahrungen fokussieren lassen.

Erst unser Gehirn wandelt unsere Körperbotschaften in Schmerzerleben oder angenehmes oder neutrales Erleben um. Sowohl die Aussagen: ‚Wo ein Organschaden, da ist auch ein Schmerz‘ bzw. ‚Wo ein Schmerz, da ist auch ein Organschaden ‚als auch die Behauptung ‚Je größer der Organschaden, desto größer der Schmerz‘ und vice versa sind also nachweislich falsch, zumindest unvollständig.

Ich möchte diese zweite wichtige Erkenntnis hier festhalten: Der Zusammenhang zwischen Organschädigungen und unserem Schmerzerleben ist keine einfache 1 zu 1 – Beziehung. Organschaden und Schmerz stehen in einer eher lockeren Beziehung zueinander.

Die Neurophysiologie unseres Schmerzerlebens ist sehr komplex. Ein Schmerzsignal kann von den dafür geeigneten Sinneszellen, sogenannten Nozizeptoren, in der Körperperipherie erzeugt und über das Rückenmark und den Hirnstamm in die höheren Gehirnregionen weitergeleitet werden. Die Weiterleitung peripherer Signale auf der Schmerzbahn kann durch vielerlei Weichenstellungen übergeordneter Systeme beeinflusst werden.

Schmerzerleben kann aber auch allein durch Prozesse im Frontalhirn ausgelöst werden. Das heißt, dass beispielsweise allein die Fantasie zukünftiger Schmerzen im Frontalhirn geeignet ist, Schmerzerleben hervorzurufen.

Unser Schmerzerleben entsteht erst im Gehirn. Man geht von einer zentralen Kontrollinstanz im Neokortex unseres Gehirns aus, die allen anderen Subsystemen übergeordnet ist und deren Aktivität steuern kann (vgl. Adler 2012, 224ff). Die Weiterleitung der Schmerzsignale vom Ursprungsherd kann durch modulierende Aktivitäten im Gehirn, im Rückenmark oder im Hirnstamm verringert oder gar ganz unterbunden werden. Diese modulierenden Aktivitäten beeinflussen also sogenannte Schmerzportale, d.s. Schaltzentralen auf dem Weg des Schmerzsignals, durch die der Schmerzreiz hindurchmuss, wenn er im Gehirn als Schmerz erkannt werden soll.

Faszinierend ist, dass die Weiterleitung von Schmerzsignalen – sogar schon an einem dieser Portale im Rückenmark – auch allein durch unsere kognitiven Erwartungen und Überzeugungen unterbrochen werden kann. Die Hamburger Neurologin und Placeboforscherin Dr. U. Bingel belegte z.B. in einem Experiment, dass wir manche Schmerzsignale schon auf der Ebene des Rückenmarks „allein durch die Kraft unserer Erwartung hemmen“ können! (Götte (2016), S.133). Unsere Erwartungen an das, was geschehen wird, haben also einen modulierenden Einfluss auf unser Schmerzerleben. Das gilt leider auch umgekehrt, wie z.B. ein kürzliches Experiment am Institut für systemische Neurowissenschaften des Hamburger UKE zeigte: Wenn man Patenten ein Scheinmedikament ohne Wirkstoff verabreicht und ihnen gleichzeitig sagt, dass das Medikament ein erhöhtes Schmerzempfinden hervorrufen wird, dann tut es das auch und besonders dann, wenn man den Menschen sagte, dass es ein „teures“ Präparat sei, In einer anderen Gruppe, denen man gesagt hatte, dass das Medikament „günstig“ sei, fiel der Effekt, also die sogenannte Noceboantwort, erkennbar geringer aus (Tinnermann et al. (2017)).

Schließlich wissen wir inzwischen aus der Hirnforschung, dass emotionale Schmerzen in sozialen Situationen, wie wir sie etwa durch Mobbing oder Missachtung erfahren, im Gehirn ganz ähnliche Reaktionen auslösen wie physische Schmerzen (vgl. Spitzer (2013).

Wenn Schmerzsignale das Gehirn erreichen, feuern stets drei bestimmte Areale gleichzeitig: „Das limbische System (das emotionale Zentrum), der sensorische Kortex (der die Empfindungen steuert) und der zerebrale Kortex (der Gedanken und Ãœberzeugungen strukturiert)“. (Levine/Phillips (2015), S. 44)

Daraus ergibt sich eine dritte wichtige Erkenntnis: Schmerzen haben stets einen emotionalen, einen mentalen und einen dritten Aspekt, der sich auf unsere Körperempfindungen bezieht.

Weil das so ist, können wir unser Schmerzerleben auch durch die Arbeit auf jeder einzelnen dieser Ebenen beeinflussen und verändern. Es ist natürlich klar, dass wir alles Erleben in ungeteilter Ganzheit erfahren. Es ist jedoch hilfreich, verschiedene Dimensionen des Erlebens zu unterscheiden, um so zu verstehen, wie es sich genau zusammensetzt und welche Ansatzpunkte wir haben, um lindernd auf dieses Erleben einwirken zu können. (Auf meiner Webseite zur Erforschung des Symptoms (https://peterfreudl.de/6-das-symtpom-erforschen/) hatte ich bereits eine energetische, körperliche, emotionale, mental-gedankliche, spirituelle und eine Verhaltensebene in jeder Erfahrung unterschieden und will hier all diese Aspekte in die Diskussion einfließen lassen.)

(Wenn Sie weiterlesen möchten, dann geht es hier zum zweiten Teil: Schmerz lindern (2). Die Anmerkungen und Literaturangaben finden sich am Ende des Texts zu Schmerz lindern (3))