19 Schmerz lindern (3)

„Wenn sich Schmerz mit Liebe verbindet, löst sich die Welt des Leidens auf.“ (StephenLevine)

Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Artikels:

Ich beschreibe sieben Einsichten im Umgang mit chronischen Schmerzen, die das hauptsächliche Thema des Aufsatzes sind. Der Aufsatz ist in drei Teile gegliedert.
Im ersten Teil geht es neben einer allgemeinen Einführung um diese drei Einsichten: 1. Unbewältigte leidvolle seelische Erfahrungen sind oft der Hintergrund für chronische Schmerzzustände. 2. Der Zusammenhang zwischen Organschädigungen und unserem Schmerzerleben und vice versa ist keine einfache 1 zu 1 – Beziehung. 3. Schmerzen haben stets einen emotionalen, einen mentalen und einen Körperempfindungs-Aspekt. Daher können wir unser Schmerzerleben auch durch die Arbeit auf jeder einzelnen dieser Ebenen verändern.
Im zweiten Teil werden einige Möglichkeiten der Selbsthilfe bei Schmerzen besprochen und die folgenden Einsichten erläutert: 4. Schmerz zeigt eine Blockade unseres Lebensflusses an. Er ist ein verzweifelter Schrei des Körpers nach fließender Energie. 5. Es gibt immer Bereiche im Körper, die sich schmerzfrei oder sogar gut anfühlen.
Im dritten Teil werden zwei weitere Einsichten erläutert: 6. Sanftheit ist der wesentliche Schlüssel zum Umgang mit Schmerzen. 7. Achtsame Erkundungen unserer Schmerzzustände tun uns gut. Darüber hinaus wird ein metaphorisches Modell zur seelischen Dynamik von bestimmten Schmerzzuständen vorgestellt und die Frage nach dem Sinn von Schmerzen gestellt.

Nach den prinzipiellen Erwägungen am Ende von Teil 2 möchte ich die Diskussion des spezifischen Schmerzthemas wieder aufgreifen. Schmerz lässt sich verstehen als das körperlich fühlbar gewordene Symptom der inneren Verdrehungen und Verrenkungen unseres falschen Selbst. Ich verwende diesen Begriff des falschen Selbst hier in der Bedeutung, dass das, was wir für uns selbst halten, etwas in frühkindlichen Prägungen Gemachtes ist, das unseren autonomen Strebungen nicht entsprechen muss und das regelhaft unvollständig ist, insofern als es viele inneren Anteile ausschließt. Dieses falsche Selbst reflektiert unser Herausgefallensein aus unserer ursprünglichen psychosomatischen Einheit. Es steht dem Körper an unseren Schmerzpunkten abwehrend und feindselig gegenüber.

Wenn wir uns daraus lösen wollen, konfrontieren wir uns wieder mit all den Verdrehungen und Verrenkungen in unserer Persönlichkeitsstruktur, die wir unserem wahren Selbst aufgezwungen haben, um zu überleben. Der natürliche Ausdruck von Schmerz sind Trauer und Tränen. Ungefühlt und eingekapselt in unseren Körpertiefen blockieren sie unseren Lebensfluss. Haben wir jedoch den Mut und die Kraft, sie zu fühlen, dann tragen uns Trauer und Tränen zurück in den Fluss des Lebens.

Mitgefühl, Verständnis und Trost sind das emotionale Umfeld, das wir alle für das Fühlen unserer seelischen Schmerzen benötigen, wenn wir sie lindern wollen. Das lateinische Wort für ‚trösten‘ ist ‚consolari‘, das sehr deutlich offenbart, worum es geht. Das Wort bedeutet in genauer Übersetzung ‚mit dem sein, der allein ist‘. Haben wir den Mut, einzutreten bei dem, der allein ist mit seiner Not und Trauer? Haben wir die Kraft, das Schlimme auszuhalten, ohne es verringern oder bagatellisieren zu wollen? Und haben wir den Mut, uns selbst in unserem Schmerz zu begegnen?

Als meine geliebte Frau nach langer Krankheit Ende 2017 starb habe ich Kondolenzkarten aus ihrem Heimatdorf erhalten, die an mich und die Familie mit der Anschrift „Trauerhaus Freudl“ (oder auch: „Einhaus-Freudl“, dem Nachnamen meiner Frau) adressiert waren. Das empfand ich als einen sehr treffenden Ausdruck. Auch ich fühlte mich wie ein Trauerhaus. Glücklicherweise hatte ich unter meinen Verwandten und Bekannten Freundinnen und Freunde, die den Mut, die Kraft und die Freundlichkeit hatten, mich in meinem Trauerhaus zu besuchen und bei mir in meinem Kummer zu sein. Das half auf Dauer, allmählich selbst wieder zu der Person zu werden, die mir in meinem Schmerz mit Mitgefühl begegnen konnte. Es ist diese innere oder äußere empathische Hinwendung, die wir im Umgang mit unseren Schmerzen benötigen, egal, ob sie sich uns auf körperlicher oder seelischer Ebene präsentieren.

In der Literatur findet sich häufig der Hinweis, dass Menschen mit chronischen Schmerzzuständen Mühe damit haben, sich emotional zu öffnen und ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Doch auch dieses kann hilfreich sein, eigene Schmerzen zu lindern. Also: Suchen Sie aktiv Menschen auf, bei denen Sie sich wohlfühlen und von denen Sie am wenigsten erwarten, für eigene Gefühle beschämt oder verurteilt zu werden. Welcher Mensch kommt Ihnen da als erstes in den Sinn? Und falls Sie das niemanden in Ihrer Nähe zutrauen oder sich Ihren nahen Menschen mit ihrem Leiden nicht zumuten wollen, könnte es sinnvoll sein, sich einen professionellen Helfer zu suchen.

2.8 Chronischer Schmerz als Folge eines sich selbst überlassenen Kampfes

Ich habe oben das Bild des stehenden Gewässers verwendet, um die Abkapselungssituation und Unbeweglichkeit des Schmerzbereichs zu illustrieren. Das Bild ist jedoch noch unvollständig, denn im Falle von Schmerzen funktioniert die Abschottung keineswegs gut. Wir spüren ja die Schmerzen noch, gerade so, als würden aus dem Gewässer dauernd giftige Dämpfe aufsteigen und zu uns herüberwehen, ohne dass wir das verhindern könnten. Ganz ähnlich wie wir Lärm nicht aus uns fernhalten können strahlt auch der Schmerzbereich auf uns aus und belagert unser Denken und Fühlen mit großer Eindringlichkeit und Schärfe. Wir schaffen es gleichsam kaum, ihn nicht wahrzunehmen. Seine Verdrängung gelingt nicht, aber auch das Bewusstwerden und das Verstehen sind aufgrund der Dissoziation der Hintergründe des Schmerzes erheblich erschwert.

Ich möchte Ihnen nun ein Denkmodell vorstellen, das hilfreich sein mag, die Vorgänge in der Tiefe besser zu verstehen. Das Modell mag spekulativ sein; es entspricht jedoch meiner therapeutischen Erfahrung mit meinen Patienten und deckt sich mit den Erkenntnissen aus der Selbsterforschung meiner eigenen Schmerzen. Weil das so ist, fühle ich mich – auch ohne die Rückenstärkung wissenschaftlicher Abgesichertheit – berechtigt, es Ihnen vorzustellen und an einem Beispiel zu erläutern.

Unverkennbar ist, dass der Schmerzbereich hartnäckig und unnachgiebig in unser Bewusstsein drängt. Etwas ist und bleibt virulent wie der sprichwörtliche Stachel in unserem Fleisch, der unsere ganze Aufmerksamkeit mit Nachdruck einfordert. Die Annahme erscheint schlüssig, dass das daran liegen könnte, weil es um etwas Wichtiges geht. Vielleicht ist der Dauerschmerz eben nicht nur der unerwünschte Ausdruck eines eklatanten Fehlers in unserer psychosomatischen Selbstorganisation, der zu einem sich selbst ständig blind reproduzierenden Schmerzgedächtnis in unseren neuronalen Schaltkreisen führte.

Vielleicht geht es viel eher um eine sinnvolle und notwendige – eine Not wendende – Erinnerung daran, dass ein altes und wichtiges Problem endlich von uns wahrgenommen, anerkannt und gelöst werden will?

Greifen wir Rumis Metapher des Gasts noch einmal differenzierter auf. Ein chronischer Schmerz gleicht einem Dauergast in unserem Haus, der vor den Türen der inneren Gemächer unseres Zuhauses herum zu krakeelen und Einlass zu begehren scheint. Was er da tut, tut er in einer Weise, die nervt und unsere Ablehnung hervorruft, uns vielleicht schließlich sogar verzweifeln lässt. Wir wenden uns mit Grausen ab und können ihn doch nicht ignorieren. Denn der Gast wird nicht müde, uns an seine Anwesenheit zu erinnern. Wir haben bereits alles Mögliche probiert, um ihn zu vertreiben. Wir haben Therapeuten als eine Art „Auftragskiller“ (Anm. 4) auf ihn angesetzt, die ihn für uns ausradieren sollten. Wir haben ihn mit chemischen Keulen (Schmerzmedikamenten) zeitweilig niedergeworfen. Wir haben ihn vielleicht im Alkohol zu ertränken versucht. Wir haben Gebete an ihn gerichtet. Wir haben ihn verflucht. Wir haben versucht, ihn auf vielerlei Arten zu bestechen. Wir haben die höheren Mächte um Hilfe angefleht. Wir haben ihn wild entschlossen losgelassen. Doch er ist immer zu uns zurückgekehrt.

Was aber geschieht, wenn wir unsere Abneigung für einen Moment beiseitestellen und uns dem Gast zuwenden? Was geschieht, wenn wir den Gast, dem Vorschlag Rumis folgend, willkommen heißen und ihm mit aufrichtiger Offenheit und Neugier begegnen? Das Faszinierende an dieser freundlich-interessierten Hinwendung ist, dass es uns in die Lage versetzt, tiefer zu sehen und den Gast genauer zu erkennen, sofern wir etwas Übung darin haben, die Bewegungen und Kräfte in unserem Inneren zu bebildern. Wir werden vermutlich erkennen – so wie ich das bei Rückenschmerzen oft beobachtet habe – dass es nicht ein Gast ist, sondern deren zwei und dass die nervende Penetranz ihrer schmerzhaften Aufmerksamkeitsheischerei durch den lautstarken Streit dieser beiden Gäste entsteht.

Die Vermutung ist begründet, dass der Streit lange begann, bevor er dann so lautstark eskalierte und sich als gefühlter Schmerz bemerkbar machte. In diesem Denkmodell zur Aufrechterhaltung chronischer Schmerzustände sehe ich es so, dass beide Gäste gute Argumente auf ihrer Seite haben. Keiner ist deshalb bereit, nachzugeben. Beide kämpfen mit einer Entschlossenheit, als hinge das Leben davon ab. Und da es tatsächlich um wichtige Fragen geht, wie das Leben zu leben sei, ist keine Seite gewillt, einzulenken. Im Falle von Rückenschmerzen kann der eine Gast zum Beispiel für den bedeutsamen Wert stehen, sich auf jeden Fall im Leben grade zu machen und aufrichtig zu sich selbst zu stehen. Zeige Haltung, sag Deine Wahrheit, behaupte Dich, das könnten Wertentscheidungen sein, die der eine Gast als sinnvoll und lebenswert erkannt hat. Der andere Gast könnte – ein tyrannisches Elternhaus vorausgesetzt, in dem Widerstand gegen den unterdrückerischen und gewalttätigen Vater / die diktatorische, ebenso gewaltsame Mutter sich lebensgefährlich anfühlte und Aufrechtsein daher wenig opportun erschien – für die Wertentscheidung einstehen, dass Überleben das Wichtigste ist, egal wieviel Verzicht auf den aufrechten Gang dafür hinzunehmen ist. An die Stelle des tyrannischen Elternhauses können Sie auch andere Autoritäten setzen, wie etwa die Stellvertreter einer Religion, die unseren kindlichen und jugendlichen Forscherdrang mit der Strafandrohung des Fegefeuers oder gar ewiger Verdammnis behindert haben.

Das Entscheidende ist nun, dass beide innere Anteile für gute, sinnvolle, nachvollziehbare Werte stehen: ‚Überleben ist gut, ‚Rückgrat und Aufrichtigkeit‘ sind gut. Oder im Falle religiöser Verbote: ‚Neues erkunden‘ ist gut, ‚im Zustand der Unschuld bleiben‘ ist gut. Der Kampf tobt weiter. Offenbar hat es der Hausherr oder die Hausherrin schon vor geraumer Zeit aufgegeben, den Konflikt der beiden Gäste, in den er oder sie aufgrund der geringen Handlungsspielräume im tyrannischen Elternhaus (oder der Kirche etc.) geraten ist, zu lösen. Der Konflikt erschien damals unlösbar und dieser Anschein der Unlösbarkeit überdeckt die Wahrnehmung der jetzigen Situation, in der die Tyrannei des Elternhauses (der Kirche etc.) nur noch in der Innenwelt des Hausherrn oder der Hausherrin weiterlebt. Solche und ähnliche Konflikte vermute ich in der seelischen Tiefe von chronischen Rückenschmerzen.

Bebildert man also den Schmerzbereich, so bietet sich die metaphorische Vorstellung an, dass da zwei Gäste in einem Haus wohnen, die sich in einer Art Dauerclinch gegenüberstehen. Beide Kämpfer stehen in ihrem Kern für essenzielle, gute und sinnvolle Intentionen und Werte. Keiner hat ein für alle Mal gewonnen. Keiner darf gewinnen, weil sonst ein wichtiger Seeelenanteil verloren ginge.

Der Kampf entstand in einer existenziellen Notsituation. Er entstand lange bevor der Schmerz fühlbar wurde. Vielleicht bedeutet nun das erste Auftreten des Schmerzes an einem bestimmten Zeitpunkt unseres Lebens, dass uns in der Zwischenzeit weitere Erlebnisse widerfahren sind, die aufgrund ihrer strukturellen Ähnlichkeit mit unserer Kindheitssituation am selben Ort gelandet sind. Bildlich gesprochen ist es so, als hätten sich im Laufe der Jahre weitere Zuschauer am Kampfplatz eingefunden, die mit einer der beiden Seiten sympathisieren. Denn der Kampfplatz wirkt wie ein magnetischer Anziehungspunkt – wie ein Sammelbecken – in unserem Unbewussten für all die anderen späteren unverarbeitet gebliebenen Erfahrungen, die unserem ursprünglichen Trauma bzw. unseren Minitraumata ähnlich waren. Irgendwann mögen der Kampflärm und die Anfeuerungsrufe der jeweiligen Fanblocks eine kritische Schwelle überschritten haben und wir begannen, dauerhaften Schmerz zu spüren. Das ‚Schweigen der Organe‘, das stumme Aushalten und Ertragen, das unseren Körper bis dahin auszeichnete, findet so ein Ende.
Vielleicht ist es aber auch eher so, dass der Moment des ersten Fühlbarwerdens unseres späteren Dauerschmerzes auch der Moment ist, an dem aufgrund realer Veränderungen in unseren Lebensumständen der Möglichkeitsraum und die Hoffnung in uns erwacht ist, dass wir den alten Konflikt neu angehen und lösen können. Das erste Auftreten des Schmerzes wäre dann gleichsam wie ein Aufwachen und ein Weckruf: „He, schau neu hin! Betraure, wie es war. Aber sieh auch, dass die Dinge sich verändert haben und jetzt mehr und Besseres geht.“ Der schmerzende Stachel in unserem Fleisch wäre dann so etwas wie eine Anstachelung und Ansporn zu großen Veränderungen, die wir aufgrund des aus der traumatischen Vergangenheit herüber dämmernden ‚Anscheins der Unlösbarkeit‘ vor uns hergeschoben und noch nicht konstruktiv in Handlung umgesetzt haben.
Aus der Dynamik dieses fortdauernden Kampfes ohne Sieger entsteht jedenfalls die Virulenz, die ‚Erstarrung in aufgewühlter Bewegung‘, aus der sich unsere Schmerzen speisen. Der Hausherr, in dessen Haus der Kampf tobt, hat es aufgegeben, eine neue Lösung des Konflikts zu suchen. Im Grunde will er sich nicht mehr an die alten Entscheidungen für den einen oder anderen Wert erinnern, weil sie wenig schmeichelhaft für sein jetziges Ego gewesen sein mögen. Der Kampf läuft gleichsam auf Autopilot weiter; die Kämpfer sind sich selbst überlassen. (Ich vermute, dass auch bei allen anderen chronischen Schmerzuständen ähnliche innere Dynamiken vorliegen.)

Was folgt aus dieser Sichtweise für unseren Umgang mit unseren chronischen Schmerzuständen?

Ein dauerhafter Schmerzzustand ist ein „Bedürfniszustand“, der sich nach Frieden sehnt. Wie schaffen wir inneren Frieden? Wir müssen uns den beiden Kämpfern mit Neugier und Offenheit zuwenden. Es ist gut, erst einmal zu klären, für welche Intentionen und Werte sie stehen. Wir können beide für ihren Einsatz würdigen. Denn sie verdienen unser Verständnis und unsere Anerkennung, haben sie sich doch stets für uns eingesetzt. Wir können beide Gäste einladen, die gute Absicht des jeweils anderen zu sehen. Wir können nach der guten Absicht forschen, die beide gemeinsam haben.

Übrigens ist es gut, auch den jeweiligen sympathisierenden Fanblocks Beachtung zu schenken. Was ist geschehen, so dass sie an diesem Kampfplatz gelandet sind? Welches kleinere oder größere Trauma wartet hier noch auf Bearbeitung? In der Regel ist es so, dass all die weiteren schmerzlichen Erfahrungen dazu tendieren, wieder an die Oberfläche zu kommen, wenn wir einmal mit der entschlossenen Hinwendung zu unserem Schmerzbereich begonnen haben.

Entscheidend ist, gemeinsam mit den beiden Kämpfergästen nach einem Weg zu suchen, wie ihr Konflikt gelöst werden kann. Wir brauchen eine dialektische Integration der unterschiedlichen Werte und Prinzipien, für die die beiden jeweils stehen. Da kein Problem auf der Ebene gelöst werden kann auf der es entstanden ist, werden wir unser Schmerzproblem auch nur dann entscheidend lösen können, wenn wir es schaffen, einen oder mehrere Wachstumsschritte zu machen, um so auf einer höheren Bewusstseinsstufe anzukommen, auf der unsere beiden Gäste friedlich miteinander sitzen können. Das ist die wahre Aufgabe, vor der wir stehen, wenn wir unser Schmerzproblem fundamental überwinden wollen.

Die wichtige Frage ist nun: Was für ein Mensch bin ich geworden, wenn mir diese Wachstumsschritte gelungen sind? Was für ein Hausherr, was für eine Hausherrin bin ich geworden, wenn ich gegenüber allen meinen inneren Gästen so gastfreundlich bin, dass in mir Frieden herrschen kann? Und welche Schritte kann ich jetzt gehen, um mehr und mehr in diese Persönlichkeit hineinzuwachsen?

Im Falle der Rückenschmerzen bin ich vielleicht ein Mensch geworden, der gelernt hat, fest und stark zur eigenen Wahrheit zu stehen wie die sprichwörtliche Eiche, der aber flexibel genug ist, sich auch mal freiwillig zu beugen wie das ebenso sprichwörtliche Schilfrohr, ohne dabei an Selbstachtung zu verlieren. Vielleicht bin ich aber auch ein Mensch geworden, für den das pure Überleben nicht mehr so zentral ist, sondern der stattdessen Mut, Einsatz und Opferbereitschaft im Kampf für bedeutsame Ziele an die erste Stelle gesetzt hat?

Es geht darum, die Schmerzen zu überwinden. Aber vielleicht gelingt das nie ganz. Niemand kann ihnen seriös versprechen, dass Sie ihre Schmerzen ganz überwinden werden. Insofern ist es gut, auch die Erwartungen an das Ergebnis der eigenen Bemühungen nicht zu hoch zu hängen. Garantieren kann ich Ihnen allerdings, dass Sie, wenn Sie sich auf den Weg machen oder diesen bereits eingeschlagenen Weg entschlossen weitergehen, mehr und mehr zu jenem gastfreundlichen Hausherrn/Hausherrin werden, von dem/der Rumi spricht, und dass Sie mehr inneren und äußeren Frieden erleben werden, wenn Sie mehr und mehr eigene Anteile in sich annehmen können. Vielleicht können Sie dabei die Wahrheit dieses Sprichworts für sich nutzen: „Geduld und Humor sind die beiden Kamele, mit denen man durch jede Wüste kommt.“

Es geht nicht darum, nur etwas loszuwerden. Es geht darum, zu wachsen und aufzublühen. Also noch einmal: Was für ein Mensch müssen Sie sein, damit die beiden Pole ihres inneren Kampfes sich miteinander aussöhnen können?

2.9 Sanftheit ist der Schlüssel

Die sechste wesentliche Erkenntnis ist die folgende: Sanftheit ist der wesentliche Schlüssel zum Umgang mit Schmerzen.

Es dürfte jedem sofort intuitiv einleuchten, dass man Schmerz nicht mit Härte oder Strenge begegnen kann, sofern man den aufrichtigen Wunsch hat, ihn zu lindern. Stellen Sie sich nur eine offene Wunde vor, die mit Grobheit berührt wird. Das grenzt an Folter. Heilsam ist das genaue Gegenteil. Ein Beispiel: Beim Reinigen oder Verbinden einer Wunde ist es sicher hilfreich, wenn die Berührungen sicher, aber auch so sanft und zart wie möglich sind. Je sanfter und behutsamer die Hände sind, die uns in unserer Verletztheit berühren, desto weniger Schmerzen werden wir erleiden.

Das ist wirklich wichtig. Denn das Prinzip gilt auch in unserem eigenen Umgang mit unseren Schmerzen. Wir können sehr ablehnend und verurteilend gegenüber unseren Schmerzen und mithin auch gegenüber unserem gepeinigten Körper sein. Damit tun wir uns keinen Gefallen, im Gegenteil. Doch vielfältige Enttäuschungen bei unseren Bemühungen, unsere Schmerzen loszuwerden, können uns in Verbitterung, Selbstablehnung oder Wut zurückgelassen haben.

Erinnern Sie sich bitte an die drei Ebenen des Schmerzerlebens: Neben den Körperempfindungen sind unsere Gedanken und Emotionen mitbestimmend für das Ausmaß unseres erlebten Schmerzgefühls. Die Gedanken an unsere Schmerzen können von starken Gefühlen ohnmächtiger Wut, der Trauer, der Vergeblichkeit und des Ausgeliefertseins begleitet sein. Es geschieht häufig, dass man sich, je länger der Schmerz augenscheinlich völlig unbeeinflussbar anhält, mehr und mehr als hilfloses Opfer des Körpers erlebt. Das Denken verengt sich auf wenige pessimistische Gedanken, die wiederholt werden, sich einschleifen und dadurch das Schmerzerleben verstärken, etwa so: „Der Schmerz hört wahrscheinlich nie auf. Der bleibt jetzt bis an mein Lebensende da und ändert sich kein bisschen, oder wenn, dann nur zum Schlimmeren. Gegen den Schmerz ist kein Kraut gewachsen. Da hilft rein gar nichts. Ich hasse meinen Körper. Ich ertrage es nicht mehr. Am liebsten wäre ich tot. Dann müsste ich das wenigstens nicht mehr aushalten.“ Machen Sie sich klar, dass jeder einzelne dieser Gedanken die Macht besitzt, unser Schmerzerleben fühlbar zu intensivieren! Insbesondere der angstvolle Gedanke, der Schmerz werde nie aufhören ist ein sicherer Weg, unser subjektives Schmerzempfinden drastisch zu verschlimmern. Überhaupt sind Ängste und alle Arten von Stress geeignet, unser Schmerzerleben zu steigern. Selbsthass erschafft ein zusätzliches Problem, und ist – in Buddhas wunderbarer Metapher – wie ein zweiter Pfeil, den wir in uns schießen, während wir noch intensiv am ersten Pfeil der Schmerzen leiden, der schon in uns steckt.

Beginnen Sie stattdessen, realistisch zu denken, Neues zu probieren und vor allem Milde mit sich selbst walten zu lassen. Sinnvoll erscheint mir beispielsweise folgender Dialog mit sich selbst: „Meine chronischen Schmerzen bedeuten, dass ich für etwas Wichtiges in meinem Leben noch keine gute Lösung gefunden habe. Sie fordern mich dazu auf, mich für eine gute Lösung einzusetzen und neue Wege zu gehen. Das ist nicht leicht. Vermutlich gibt es ernste Gründe für meine Schmerzen, die in der Vergangenheit liegen. Doch nichts ist unveränderbar. Auch mein Schmerzempfinden ist schon jetzt nicht immer gleich. Wenn ich bereit bin, neue Gedanken und Übungen auszuprobieren, kann ich herausfinden, welche Gedanken und Übungen tatsächlich nützlich sind, um meine Schmerzen zu verringern.
Ich werde die ganze restliche Zeit meines Lebens mit meinem Körper verbringen. Ist es da nicht sinnvoll, zu schauen, wie ich mich mit ihm anfreunden kann, statt ihn weiter als Feind zu sehen? Und wenn ich tatsächlich aufgrund meines Einsatzes Veränderungen in meinem Schmerzerleben wahrnehme, so wächst meine Hoffnung auf Besserung. Ich werde mich weniger als Opfer meines Körpers fühlen und das stolze Gefühl haben, etwas Heilsames für mich selbst tun zu können. Es mag sein, dass das lange dauert. Und vielleicht gelingt es mir nie, die Schmerzen ganz zu überwinden. Doch auch dann bin ich bereit, mich selbst von ganzem Herzen zu lieben und anzuerkennen.“

Schmerzen reagieren auf unsere Ängste und die Härte unserer Ablehnung mit Verschlimmerung. Sie reagieren positiv auf die Freundlichkeit und Sanftheit unseres Herangehens. Wenn die Mutter liebevoll auf das aufgeschlagene Knie ihres Kindes pustet, verschwindet der Schmerz wie von Zauberhand. Auch bei Erwachsenen bewirkt einfühlsame Zuwendung oft eine Linderung von Schmerzen. Dafür gibt es genügend Belege. Zum Beispiel senkt die Anwesenheit von Unterstützungspersonen bei Geburten nachweislich das Ausmaß, in dem Schmerzmittel verabreicht werden müssen (vgl. Steinkopf, S. 122). In wissenschaftlichen Untersuchungssituationen können wir Schmerzen umso besser und länger ertragen, wenn wir dabei von anderen Menschen begleitet werden.

2.10 Schmerzmeditationen

Wer die Wirkung eines sanften Herangehens an seine Schmerzen einmal selbst überprüfen mag, der probiere eine der Schmerzmeditationen des buddhistischen Meditationslehrers Stephen Levine aus. Ich mag seine Meditationen sehr. Levine sagt: „Wenn sich Schmerz mit Liebe verbindet, löst sich die Welt des Leidens auf.“ (Levine, S. (1995), S. 205) Das ist kurz zusammengefasst das Wirkprinzip seiner Schmerzmeditationen. Statt den natürlichen Reflexen des Fliehens vor dem Schmerz und der Anklage gegen den Schmerz nachzugeben schlägt er ein achtsames Erkunden der Schmerzempfindungen vor. Auch die Abwehr gegen das langsame Annähern des Gewahrseins an den schmerzenden Bereich wird zugelassen und erforscht. Neben den körperlichen Empfindungen werden auch die den Schmerz begleitenden Gefühle und Gedanken nach und nach zugänglich und akzeptierend erkundet. Die konsequent verfolgte Haltung der freundlich-achtsamen Hinwendung unseres Gewahrseins – ohne Greifen oder Ablehnung, ohne Urteil oder Vorwurf; alles darf so sein wie es jetzt ist – führt zu einer sich langsam ausdehnenden Entspannung und Weichheit in den Körpergeweben und Frieden in unserem Geist. Levine lädt dazu ein, dem Schmerzbereich in uns mit Fürsorge und Anteilnahme, mit Mitgefühl und „Erbarmen“, mit „liebevoller Güte und Vergebung“ zu begegnen, so dass sich Verklammerungen und Verhärtungen öffnen und sich mehr und mehr entspannen können. Zentral ist, das eigene Herz für den Schmerz zu öffnen. Alles darf da sein und im sanften, unendlichen Raum des Gewahrseins schweben: „Von Augenblick zu Augenblick nimmt das grenzenlose Herz die Empfindung in sich auf … (Levine, S. (1995), S. 240)

Unser Erleben wird in jedem Moment in unserem Gehirn neu erschaffen. Die Neuheit des Augenblicks bringt auch die Möglichkeit mit sich, sich anders zu erleben. All das gerät unter dem Diktat der ‚Erstarrung in aufgewühlter Bewegung‘ in Vergessenheit. Weil der Schmerz schon so lange andauert, ist der innere Erwartungsraum für das gute andere, schmerzfreiere Erleben so sehr zusammengeschnurrt. Da kann es hilfreich sein, sich für ein weiteres Prinzip der achtsamen Erkundung des Schmerzerlebens zu öffnen, den sogenannten „Anfängergeist“. Der Anfängergeist ist eine innere Haltung, die aus der Wahrheit heraus lebt, dass jeder Augenblick neu und noch nie da gewesen ist. Er ist daher geeignet, eingefahrene Routinen und die Erwartung des Immergleichen, die so typisch für unser Erleben chronischer Schmerzen ist, loszulassen. Kann ich mich für diesen Anfängergeist öffnen, für den jeder Moment neu und frisch ist? Kann ich beseelt von diesem Geist in jedem einzelnen Augenblick neu auf mich und meinen Schmerz schauen und ihn einfach bei sich sein und in Ruhe lassen?

Das zu erleben kann sehr, sehr wohltuend sein.

(Leider gibt es meines Wissens keine Audio-CD von Levines Arbeit.)

Falls Sie lieber mit Audio-CDs arbeiten wollen bietet sich die Schmerz-CD von Prof. Dr. Jon Kabat-Zinn (Kabat-Zinn/Hölzel (2013)) an, auf der viele Übungen zur Linderung chronischer Schmerzzustände enthalten sind. Seine Sprache ist nüchterner als die von S. Levine, der manchen Lesern zuweilen zu salbungsvoll klingen mag. Die Übungen sind ebenfalls ziemlich effektiv. Meine Erfahrung damit war, dass ich mich nach Anhören der gesamten CD, die ca. 80 Minuten dauert, tatsächlich immer schmerzfrei gefühlt habe. Ich möchte daher diese siebte wichtige Einsicht zu chronischen Schmerzen anfügen: Achtsame Erkundungen unserer Schmerzzustände tun uns gut.

Auch Kabat-Zinn ist Meditationslehrer und steht in der Tradition Buddhas. Das ist natürlich kein Zufall. Schon Buddha brachte seinen Mönchen bei, z.B. bei Kopfschmerzen während der Meditation ein achtsamer – nicht urteilender – Zeuge des Geschehens zu bleiben, es da sein zu lassen und eventuell gedanklich zu benennen: „Kopfschmerz, Kopfschmerz“. Er riet dazu, die Erfahrung ansonsten einfach sich selbst zu überlassen und sie vor allem nicht abzulehnen und zu bekämpfen. Heutige Therapeuten könnten den Hauptgrund dafür so zusammenfassen: „What you resist persists.“ (Das, was wir in uns abwehren, das bleibt bestehen.)

Hilfreich ist stets das Annehmen und Loslassen des Schmerzes. Doch wie geht dieses Loslassen genau? Beispielhaft und bewundernswert wird dies in der Haltung eines Schülers aus einer Lehrgeschichte eines weiteren zeitgenössischen buddhistischen Meditationslehrers, Ajahn Brahm, erläutert. Brahm, Absolvent eines Physikstudiums an der Universität Cambridge, der jetzt als Abt eines Klosters in Australien lebt und arbeitet, lässt den Schüler folgendes zu seinem Schmerz sagen: „Schmerz, die Tür zu meinem Herzen steht dir offen, ganz gleich, was du mir antust. Tritt ein.“ Brahm schreibt, dass der Schüler dem Schmerz ein Bleiberecht einräume, „solange der Schmerz dies will und sei es für den Rest seines Lebens“. Er schließt diese Geschichte, die er „Schmerz loslassen“ betitelt hat, mit folgenden Worten: „Er [der Schüler] lässt dem Schmerz Freiheit und hat es aufgegeben, ihn kontrollieren zu wollen. Das ist das wahre Loslassen. Dabei ist es gleichgültig, ob der Schmerz bleibt oder verschwindet. Nur dann wird er weggehen.“ (Brahm (2007), 66f).

2.11 Schmerz und inneres Wachstum

Ich möchte diesen Aufsatz nicht beenden, ohne den wichtigen Gedanken, dass Schmerzen – aufgrund der Nähe körperlicher Schmerzen zu seelischen Verletzungen verzichte ich in diesem Schlussstück auf eine genauere Spezifikation der Art der Schmerzen – auch unserem Wachstum dienen können, noch einmal aufzugreifen. Eckart von Hirschhausen spricht in einer gelungenen Formulierung davon, dass es ja nicht nur die posttraumatische Belastungsstörung gäbe, sondern eben auch „posttraumatisches Wachstum“ (Esch & Hirschhausen, S. 121). Die Erfahrung eines leidvollen Traumas kann ein dramatischer Anstoß zum Wandel hin zum Besseren sein. Eine solche Erfahrung kann unsere Weltsicht und unser Selbstverständnis verwandeln, jene ganzheitlicher und umfassender werden lassen und uns selbst demütiger, auch mitfühlender, verständnisvoller, freundlicher im Angesicht der Not eines Mitmenschen. Auf dieses Entwicklungspotenzial zielte schon Nietzsche ab, als er jedem, der ihm etwas galt, Leiden wünschte. Für den christlichen Kirchenlehrer Augustinus war das Erleben von Leid das schnellste Ross zur Vervollkommnung. Auch Rilke spricht über die verwandelnde Kraft des Leids: „Unter den Tauben, die allergeschonteste, niemals gefährdete, kennt nicht die Zärtlichkeit; wiedererholtes Herz ist das bewohnteste; freier durch Widerruf freut sich die Fähigkeit.“ (Rilke, Gedichtauszug aus: ‚Taube, die draußen blieb‘ (1926))

Schmerzen fordern uns dazu heraus, etwas zu ändern, sei es im Außen oder im Inneren. Schmerzen enthalten dadurch ein implizites Wachstumspotenzial. „Through pain we grow“ (durch Schmerz wachsen wir), darin liegt eine tiefe Wahrheit. Wenn es gelingt, Schmerzhaftes zu integrieren, so ist daran oft ein innerer Trauerprozess beteiligt, in dessen Verlauf wir vielleicht Illusionen überwinden, uns unliebsamen oder gefürchteten Wahrheiten stellen, Verluste besser annehmen lernen oder es üben, mit Gefühlen in uns umzugehen, mit denen wir nie etwas zu tun haben wollten. „Schmerz ist der Lehrer, Weisheit die Lektion“, so verheißungsvoll benennt der amerikanische Autor spiritueller Bestseller, Gregg Braden, die mögliche Frucht der inneren Arbeit an unseren Verletzungen und Schmerzen (Braden (2009), S. 37).

Das klingt sehr vielversprechend. Aber vergessen wir nicht, dass wir viel inneren Halt und ein gutes Maß an äußerer emotionaler Unterstützung brauchen, wenn wir unser Schmerzerleben in Schritte des Wachstums transformieren wollen. Diese Umwandlung gelingt gewiss nicht immer; zuweilen mag der unterstützende Halt fehlen oder nicht genügen und mancher Schmerz mag zu tief und zu alt sein, um ihn loslassen oder verwandeln zu können. Oder vielleicht ist hier ein innerer Anteil von uns bedeutsam, der in uns auf seine noch nicht vollzogene Würdigung wartet und sich gegen die Überwindung des Leids mit folgendem Gedanken sperrt: „Wenn’s jetzt gut wird, dann werde ich vergessen!“ (Auch dieser überaus bedenkenswerte Gedanke stammt von dem mehrfach erwähnten Arzt Gunter Schmidt.) Wenn es so wäre und Sie ein Bild von diesem Anteil in sich machen würden, was würden Sie wahrnehmen? Und unter welchen Bedingungen wäre dieser Anteil bereit, seine Aktivität einzustellen?

Gläubige Menschen nähren in sich den Gedanken, dass Gott niemandem mehr aufbürde als dieser in der Lage zu tragen sei. Und sie finden Trost darin, denn der Glaubenssatz besagt ja auch, dass die Wucht des leidvollen Schicksals eines Menschen einer in ihm angelegten Größe und Kraft korrespondiert, die ihn befähigt, genau dieses Geschick zu meistern. Auch wenn Sie, geneigter Leser, kein religiöser Mensch sein sollten, so lohnt es doch, einmal über diesen Gedanken nachzudenken.

Vielleicht können Sie sich aber auch mit der Quintessenz der folgenden Geschichte anfreunden, mit der ich schließen will:

‚Moshe war es leid, sein Kreuz zu tragen. Also ging er zum HERRN und beschwerte sich darüber, dass sein Kreuz in diesem Leben viel zu schwer sei. Er könne und wolle es nicht mehr tragen. Der HERR hörte sich die Klagen Moshes geduldig an und sagte dann: „Nun Moshe, das Leben ist, wie es ist und ein Kreuz muss sein. Wohl aber will ich Dir die Möglichkeit geben, Dir ein neues Kreuz auszuwählen, wenn Du deines partout nicht mehr tragen magst.“ Der HERR führte Moshe daraufhin zu einer riesigen Lagerhalle, in der alle möglichen Kreuze aufbewahrt wurden, kleine und große, überaus prächtige und auch ganz schlichte, metallische und hölzerne. „Suche Dir eines aus … “ sprach der HERR und Moshe machte sich ans Werk. Er suchte lange, er suchte gründlich, probierte mal das eine, mal das andere aus. Schließlich entschied er sich für ein kleines, recht unscheinbar wirkendes Holzkreuz und bat den HERRN, in Zukunft dieses tragen zu dürfen. Der HERR schaute gütig auf Moshe und dessen Kreuz und sagte lächelnd: „Gerne, Moshe. Das Kreuz, das Du dir gerade ausgesucht hast, das war eh Deines.“

Anmerkungen:

(1) Sollten Sie übrigens gerade Kopfschmerzmittel nehmen und dies weiter tun wollen, dann halten Sie sich – wenn irgend möglich – an folgenden Rat: Nehmen Sie diese Tabletten an höchstens zehn Tagen im Monat ein; ansonsten drohe ein Dauerkopfschmerz (Hackenbroch, S. 130).

(2) Um Missverständnissen vorzubeugen: Schmerzmedikamente sind sehr nützlich. Es ist gut, dass es sie gibt. Es ist wunderbar, dass Ärzte für den Notfall, wenn wir es nicht mehr aushalten können, Schmerzmedikamente wie Promethazin oder Lorazepam zur Verfügung haben. Und Schmerzen, die mit schweren und/oder lebensgefährlichen Erkrankungen wie etwa Krebs einhergehen, sollten unbedingt durch ausreichende Gabe starker Schmerzmittel, wie etwa Morphium, gelindert werden. Diese Haltung hat sich glücklicherweise in der Medizin, zumal in der Palliativmedizin, durchgesetzt. Doch hier geht es mir vor allem um chronische Schmerzzustände, deren körperliche Hintergründe oft beileibe nicht so eindeutig sind.

(3) Dem Forscher Prof. Dr. Jon-Kar Zubieta von der Universität Michigan ist es als erstem gelungen, nachzuweisen, dass Scheinmedikamente (also Pillen ohne eigentlichen Wirkstoff, sogenannte Placebos), bei denen dem Patienten gesagt wird, dass es sich um wirksame Schmerzmittel handle, ganz reale, messbare Prozesse im Gehirn auslösen. Wenn wir glauben, dass eine Pille wirksam gegen Schmerz ist, dann wird unser Gehirn nachweislich körpereigene Opiate ausschütten, die unseren Schmerz dann tatsächlich lindern. Das ist inzwischen in zahlreichen Studien belegt worden. (Vgl. Goette (2016), S. 131f)

(4) Der Arzt und systemische Hypnotherapeut Gunter Schmidt spiegelt den Patientenauftrag, den Schmerz durch den Behandler beseitigt haben zu wollen, in scherzhafter Weise als eine Art „Auftragsmord“ zurück. So einen Auftrag könne und wolle er nicht annehmen, man sei ja hier nicht bei der Mafia. Er sei aber sehr willens, zusammen mit dem Patienten zu klären, welcher Auftrag gangbar und realistisch ist. 

(5) Viele dieser technischen Anregungen verdanken sich meines Wissens modernen Therapieverfahren wie dem NLP oder der Hypnotherapie. Insbesondere die rührigen Hypnotherapeuten haben einige Audio-CDs zur Linderung von Schmerzzuständen veröffentlicht. Einfach mal in ihre Suchmaschine: „Hypnotherapie Schmerz Audio-CD“ eingeben …

LITERATUR

Adler, Rolf H. (2012): Schmerz, in: Uexküll (2012): Psychosomatische Medizin, München: Urban & Fischer, S. 223-240

Berceli, David (2007): Körperübungen für die Traumaheilung, Hrsg. Norddeutsches Institut für Bioenergetische Analyse e.V. (NIBA) (Über www.niba-ev.de bestellbar)

Braden, Gregg (2009): Verlorene Geheimnisse des Betens, EchnAton Verlag

Brahm, Ajahn (2007): Die Kuh, die weinte, München: Lotos Verlag

Broszeit, Goetz (2015): Somatisierungsstörungen – weniger ist mehr, in Medtropole, Ausgabe 39, 1436-1439

Büntig, Wolf (2017): Autonomie – Basis salutogenetischer Entwicklungen, Vortrag auf dem Kongress ‚Salutogenese bei Krebs‘, Hamburg, Juni 2017, (Audio-CD erhältlich bei Auditorium Netzwerk, Müllheim)

Esch, Tobias & von Hirschhausen, Eckart (2018): Die bessere Hälfte, Reinbek: Rowohlt

Gadamer, Hans-Georg (1993): Über die Verborgenheit der Gesundheit, Frankfurt: Suhrkamp, S. 171

Goette, Sabine (2015): Selbstheilung, München: Knaur

Hackenbroch, Veronika (2014): Bohrer im Hirn, in: DER SPIEGEL, 4/2014, 122-131

Hagemann-Goebel, Marion (2017): Chronische körperliche Krankheiten – eine Herausforderung für die Psyche, in: Medtropole, Ausgabe 46, 1760-1763

Heinl, Hildegund & Heinl, Peter (2004): Körperschmerz & Seelenschmerz. Die Psychosomatik des Bewegungssystems. Ein Leitfaden, München: Kösel

Hontschik, Bernd (2018): Drogen in kleinen Tütchen, in: KVH-Journal, 3, 2018, S. 29

Kabat-Zinn, Jon (2013): Das Abenteuer Achtsamkeit. Wie Sie Weisheit für Körper, Geist und Seele entwickeln, inkl. 2 Audio-CDs, Freiburg: Arbor Verlag

Kabat-Zinn, Jon & Hölzel, Britta (2013): Schmerz: Meditationen zum Umgang mit chronischen Schmerzen, Audio-CD und Hörbuch, Freiburg: Arbor Verlag

Kersig, Susanne (2014): Im Dialog mit dem Körper. Wie sie mit Achtsamkeit Krankheitssymptome entschlüsseln und heilen, München: Kösel

Levine, Peter A. & Phillips, Maggie (2015): Vom Schmerz befreit. Entdecken Sie die Kraft ihres Körpers, Schmerzen zu überwinden, München: Kösel

Levine, Stephen (1995): Geleitete Meditationen. Orientierung und Heilung, Bielefeld: Context Verlag (Schmerzmeditationen auf den Seiten 205-241)

Liebscher-Bracht, Roland & Bracht, Petra (2018): Deutschland hat Rücken, München: Mosaik Verlag

Lowen, Alexander & Lowen, Leslie (2006): Bioenergetik für Jeden: Das vollständige Übungshandbuch

Lühmann, Dagmar, Butz, Stefanie & Scherer, Martin (2015): Kreuzschmerzen – evidenzbasierte Versorgung, in Hamburger Ärzteblatt, 11/2015, 12-16

Rosa, Hartmut (2016): Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung, Berlin: Suhrkamp

Soyka, Matthias (2019): Nie wieder Schmerzen?, in: KVH-Journal, 1, 2019, S. 25

Spitz, Jörg (2017): Umwelt, Epigenetik und Salutogenese, Vortrag auf dem Kongress ‚Salutogenese bei Krebs‘, Hamburg, Juni 2017, (Audio-CD erhältlich bei Auditorium Netzwerk, Müllheim)

Spitzer, Manfred (2013): Soziale Schmerzen, in: (Ders. 2013): Das (un)soziale Gehirn, S. 121-134

Steinkopf, Leander (2018): Die andere Hälfte der Heilung. Warum wir Zuwendung brauchen, um richtig gesund zu werden, München: Mosaik Verlag

Tinnermann et al. (2017), in: Science; 358; 105-108, zit. in: Hamburger Ärzteblatt, 1/2017, S. 31

Wall, Patrick (1999): Pain. The Science of Suffering, London: Weidenfeld and Nicholson, (zit. bei Steinkopf, L. (2018), S. 49)