18 Schmerz lindern (2)

„Man muss es mit dem Schicksal halten wie mit dem Befinden des Körpers: Es genießen, wenn es gut ist, sich gedulden, wenn es schlecht ist, und nur in der äußersten Not starke Heilmittel anwenden.“ (LaRochefoucauld)

Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Artikels:

Ich beschreibe sieben Einsichten im Umgang mit chronischen Schmerzen, die das hauptsächliche Thema des Aufsatzes sind. Der Aufsatz ist in drei Teile gegliedert.
Im ersten Teil geht es neben einer allgemeinen Einführung um diese drei Einsichten: 1. Unbewältigte leidvolle seelische Erfahrungen sind oft der Hintergrund für chronische Schmerzzustände. 2. Der Zusammenhang zwischen Organschädigungen und unserem Schmerzerleben und vice versa ist keine einfache 1 zu 1 – Beziehung. 3. Schmerzen haben stets einen emotionalen, einen mentalen und einen Körperempfindungs-Aspekt. Daher können wir unser Schmerzerleben auch durch die Arbeit auf jeder einzelnen dieser Ebenen verändern.
Im zweiten Teil werden einige Möglichkeiten der Selbsthilfe bei Schmerzen besprochen und die folgenden Einsichten erläutert: 4. Schmerz zeigt eine Blockade unseres Lebensflusses an. Er ist ein verzweifelter Schrei des Körpers nach fliessender Energie. 5. Es gibt immer Bereiche im Körper, die sich schmerzfrei oder sogar gut anfühlen.
Im dritten Teil werden zwei weitere Einsichten erläutert: 6. Sanftheit ist der wesentliche Schlüssel zum Umgang mit Schmerzen. 7. Achtsame Erkundungen unserer Schmerzzustände tun uns gut. Darüber hinaus wird ein metaphorisches Modell zur seelischen Dynamik von Schmerzzuständen vorgestellt.

2. Selbsthilfe bei Schmerzen

2.1 Sprache und Imaginationen bei Schmerzen

Es ist sinnvoll, sich zunächst anzuschauen und sprachlich zu benennen, wie genau wir unseren Schmerz eigentlich in unserem Körper empfinden. Jedes Schmerzerleben ist einzigartig und in den Worten, die uns dazu kommen, können bereits deutliche Hinweise unseres Unbewussten sein, die uns beim Verstehen des Problems hilfreich sein können. Unsere spontan entstehenden Worte, mit denen wir unseren Schmerz genauer charakterisieren, können Offenbarungen von Zusammenhängen enthalten, die wir bewusst noch nicht denken konnten. 

Gleichzeitig können wir diese Selbsterkundung dafür nutzen, um einen Zugang zu dem zu finden, wie wir uns an diesem Ort unserer Schmerzen eigentlich erleben wollen. Indem wir die stimmigen Worte auftauchen lassen, die uns zu unseren Schmerzempfindungen einfallen, beginnen wir auch schon, den Weg für die Erkundung zu bahnen, wie wir uns stattdessen fühlen wollen. Die Vorgabe, der Schmerz solle weg sein, gibt noch keine Orientierung dafür, was wir an dieser Stelle eigentlich erleben und empfinden wollen. Wenn unser Schmerz sich anfühlt wie ein Reißen, oder ein Pochen, ein Pulsieren, ein Brennen, ein Stechen, ein Ziehen oder ein Kribbeln etc. was würden wir stattdessen gerne an diesem Ort fühlen wollen? Wenn der Schmerzort sich taub, dumpf, eng, gequetscht, gepresst, angespannt etc. anfühlt, was wäre dann das ersehnte Gegenstück dazu?

Wenn wir den Schmerz noch genauer benennen würden, wo genau erleben wir ihn eigentlich? Ist er lokal begrenzt oder hat er Ausfaserungen, Tentakel in andere Körperbereiche? Wäre er punktförmig oder flächig, klein oder groß und wie groß eigentlich? Wenn der Schmerz eine Farbe hätte, wäre er schwarz oder weiß, hell oder dunkel oder welche Farbe genau wäre das? Und wenn er ein Gewicht hätte, wäre er eher schwer oder eher leicht? Wenn er eine Substanz wäre, wäre die fest oder flüssig oder gasförmig? Wäre sie hart oder weich? Wenn der Schmerz eine Temperatur hätte, wäre er heiß oder kalt, warm oder kühl? Wenn er eine Oberfläche hätte, wäre die eher glatt oder rau? Wäre der Schmerzbereich wie stillstehend oder in dauernder Bewegung? Wäre er wie eine kompakte Masse, die an jeder Stelle gleich ist, oder gibt es unterschiedliche Bereiche in ihm? Und wenn er eine Form, eine Gestalt hätte, an was erinnert das? Auch hier ist es interessant, in jedem Einzelfall zu fragen, womit wir eigentlich gesundes, schmerzfreies Erben assoziieren. Wenn unser Schmerz also in unserer Vorstellungswelt mit schwarzer Farbe assoziiert wäre, welche Farbe hätte unser schmerfreies, gesundes Erleben an dieser Stelle? (Anm. 5)

Wir können auch neben den eher visuellen Eindrücken nach dem auditiven Sinneskanal fragen, etwa so: Wenn der Schmerz ein Ton wäre, wäre der laut oder leise, tief oder hoch, melodisch oder dissonant, stets gleich bleibend oder an- und abschwellend etc. Und wir stellen uns die wichtige Frage: Wenn zu diesem Ton ein Gefühl passen würde, wenn darin ein Gefühl mitschwingen würde, welches Gefühl könnte das sein?
Oft eröffnet der auditive Sinneskanal einen schnellen Zugang zu unserem im Schmerz gebundenen und abgewehrten Gefühlen. Wenn diese Gefühle auftauchen bringen sie oft Erinnerungen an schwierige Situationen mit sich und wir können uns fragen, was wir da eigentlich gebraucht hätten, um die Situation zu einem guten Ende zu bringen.

Wir können auch mit weiten Bildcontainern arbeiten, wie z.B. in dieser Frage: Wenn der Schmerzbereich wie eine Landschaft wäre, was wäre das für eine Landschaft? Wenn er ein Gemälde wäre, was wäre darauf abgebildet? Oder: Wenn der Schmerz wie ein Tier wäre, welches Tier würde da passen? Oder, noch allgemeiner: Wenn der Schmerzbereich wie ein Energieball wäre, wie würde der aussehen? Und wie würde er sich anfühlen, wenn man ihn mit seinen inneren Händen berühren könnte?

All diese Erkundungen dienen dazu, erstens zu einem differenzierteren Wissen über den schmerzenden Bereich zu kommen und zweitens genauer zu bestimmen, wohin wir eigentlich wollen. Je mehr detailliertes Wissen wir so bekommen, desto mehr Möglichkeiten mögen sich auftun, unser Schmerzerleben zu verändern. Diese Erforschung kann auch ein sehr guter Einstieg in die Körperübungen sein, die ich weiter unten unter der Rubrik „Pendelbewegungen“ beschreibe.

2.2 Notwendigkeit der Einbeziehung des Körpers in der Schmerztherapie

Meine Grundhaltung zum Umgang mit Schmerzen ähnelt der Lebenseinstellung des französischen Herzogs La Rochefoucauld, der im 17. Jahrhundert lebte, die ich oben zitiert habe. Wenn man unter ’sich gedulden‘ nicht eine abwartende Passivität versteht, die den Umgang mit dem eigenen Leiden an die Experten delegiert, sondern die Geduld meint, die es braucht, um beharrlich und selbstverantwortlich an der Überwindung eigenen Leidens zu arbeiten, dann ist La Rochefoucauld vollkommen zuzustimmen. Unter „starken Heilmitteln“ verstehe ich zum Beispiel Operationen bei chronischen Schmerzen, die tatsächlich für den Notfall reserviert bleiben sollten. Dass in Deutschland zu häufig und oft unnötig oder gar mit schädlichen Folgen operiert wird ist eine Binsenweisheit. Auch manche Ärzte selbst sind in diesem Kontext sehr skeptisch. Ich habe beispielsweise gehört, dass in Medizinerkreisen in Bezug auf Rückenoperationen der folgende Spruch kursieren soll: „Jede Wirbelsäulenoperation ist notwendig – mit Ausnahme der ersten!“˜. Der Satz meint wohl auch, dass es mit der ersten OP meist nicht getan ist und weitere folgen werden, die die Probleme beseitigen sollen, die ohne die erste Operation vielleicht gar nicht entstanden wären.

Ich glaube nicht, dass eine ausschließliche Arbeit auf der seelischen Ebene, also ein klassisch psychotherapeutisches Vorgehen, in der Arbeit mit chronischen Schmerzen ausreichend ist. Es bedarf meines Erachtens auch körperlich-energetischer Verfahren, um Linderung in chronifizierte Schmerzbereiche zu bringen. Denn wie bereits beschrieben führt das dynamische Geschehen unter oder hinter der Oberfläche des Schmerzbereichs ein Schattendasein, insofern als ihm die Verbindung zu seinen bewussten Seelenanteilen verloren gegangen ist. Der bewusste Zugang ist versperrt. Ich will nun keineswegs ausschließen, dass eine gekonnt gehandhabte tiefenpsychologisch fundierte oder psychoanalytische Redekur ebenfalls zu einer Linderung der Schmerzen führen mögen. Es gibt da sicher ganz ausgezeichnete Psychotherapeuten, die eine Besserung sehr kompetent erleichtern können. Allerdings denke ich, dass der Zugang über den Körper die Dinge schneller, intensiver und authentischer in Bewegung zu bringen vermag.

Seelische Abspaltungen bedingen Stagnation und Stillstand. Wie bei allen abgespaltenen Anteilen stagniert an dieser Stelle die innere Entwicklung. Doch Entwicklung und Entfaltung sind Grunddynamiken des Lebendigen. Es gibt eine treibende Kraft in uns, die all das in uns zur Entfaltung bringen will, was in uns als Potenzial angelegt ist. Der ewig-freudvolle Gesang des Lebendigen in uns, der möchte, dass wir einstimmen in sein „Wachse, blühe und gedeihe!“ (so dass Du Deinem Tod mit einem zustimmenden Lächeln begegnen kannst) ist in diesen abgekapselten Schmerzbereichen wie mit Fesseln und Knebeln versehen, so dass sein Wohlklang kaum noch zu vernehmen ist. Im Schmerz erfahren wir den Gesang des Lebendigen in uns nur noch verzerrt als schrille Dissonanz. Es ist noch Lebendigkeit darin, ein Aufbegehren und ein verzweifelter Kampf, doch die Quarantäne der Abkapselung führt zu einer Art ‚Erstarrung in aufgewühlter Bewegung‘. (Ich werde unten ausführlicher auf diese aufgewühlte Bewegung eingehen.) Ich möchte den daraus abgeleiteten zentralen Gedanken eines Konflikts zwischen den Strebungen eines uns innewohnenden Entfaltungsdrangs und möglicher Widerstände dagegen als wahrscheinlicher Hintergrund unserer Schmerzdynamik hier schon einmal erwähnen, werde ihn jedoch erst weiter unten vertiefen.

So wie ein stehendes Gewässer, dem das frische Wasser eines ihn durchfließenden Bachs fehlt, dazu tendiert, zu versumpfen und zu vermodern, so verharrt der Schmerzbereich in einer – oberflächlich betrachtet – unzugänglichen Unbeweglichkeit, weil er aus Gründen des Selbstschutzes eines überforderten Ichs von den Energien und Ressourcen des Restkörpers abgeschnitten ist. Was fehlt und nottut ist Frische, ist kraftvolle Energiezufuhr, ist eine dynamische und lebendige Bewegung hin zur Wiederverbindung mit all dem anderen, das wir körperlich und seelisch sind.

Eine vierte wichtige Erkenntnis über chronische Schmerzzustände ist damit die folgende: Schmerz zeigt eine Blockade unseres Lebensflusses an. Schmerz ist ein verzweifelter Schrei des Körpers nach fließender Energie.

Daher ist es essentiell, unsere körperlichen Energiekanäle wieder zu öffnen, damit Frische und lebendige Beweglichkeit in erstarrte Körperbereiche zurückkehren kann. Nach meinem Eindruck braucht es hier eine Übung, die uns genau an dieser Stelle gleichsam aufrüttelt, die das alte und vertraut gewordene symptomatische Gleichgewicht durcheinanderbringt, so dass etwas neues einströmen und hindurchfließen kann. Denn sobald der Fluss in uns wiederhergestellt ist verschwinden unsere Schmerzen allmählich – das ist zumindest die begründete Hoffnung.

2.3 Körperübungen und Bewegung

Die erste Mittel der Wahl sind Körperübungen und Bewegung überhaupt. Das ist ein riesiges Feld. Es gibt eine ungeheure Fülle möglicher Techniken. Fragen Sie Ihren Arzt, Ihren Orthopäden, Ihren Heilpraktiker oder Ihren Physiotherapeuten. Konsultieren Sie einen Osteopathen oder Chiropraktiker. Probieren Sie Feldenkrais-Übungen, die oft schnelle Linderung bringen können. Erlernen Sie Yoga, Tai-Chi oder Qi Gong. Auch die Kampfkünste wie Kung Fu verfügen über ein großes Körperwissen und haben viele nützliche Techniken entwickelt. Oder finden Sie eine sportliche Betätigung, die Ihnen Spaß macht. Gehen Sie tanzen. Machen Sie einen Trommelkurs etc.

Informieren Sie sich bei Körperpsychotherapeuten, die eine Fülle an zum Teil sehr kraftvollen Übungen bereithalten, z. B. Lowen & Lowen (2006). Der Arzt, Bioenergetiker und Traumatherapeut David Berceli hat in einem schmalen Buch einige spezifische Körperübungen beschrieben, die der Trauma-Entspannung (Trauma Releasing Exercises, TRE) dienen (Berceli (2007), die Sie erproben können. Diese Übungen sind ausgezeichnet geeignet, unsere Traumata gleichsam abzuschütteln. Das Rationale dieser Übungen ist hochinteressant: Berceli erinnert zunächst an die Tatsache, dass manche Tiere einen natürlichen Mechanismus in sich tragen, um die Effekte traumatischer Situationen wieder los zu werden. Wenn man z.B. eine Antilope betrachtet, die den Schrecken eines Angriffs durch ein Löwenrudel überlebt hat, so wird man finden, dass diese Antilope nach überstandener Gefahr erst einmal still stehen bleibt und in dieser Position verharrt. Daraufhin durchläuft ein Zittern den ganzen Körper, gerade so, als befreie sich die Antilope mit Hilfe dieses Zitterns von all ihren Schreckresten. Anschließend hüpft sie davon. Dieser Mechanismus, sich über das körperliche Erschaudern, über das Zittern von einer Traumaerfahrung zu befreien sei nun auch im Menschen als Potenzial angelegt! Es sei hier nur etwas verschüttet und benötige eigenes Zutun, um ihn zu aktivieren. Die Körperübungen zielen nun genau darauf ab, diese Zitterbewegungen nachträglich zu stimulieren, um sich so auch körperlich von den Schrecken des Traumas zu befreien.

Was auch immer Sie tun: Bewegen Sie sich. Und insbesondere: Experimentieren Sie mit Übungen, die etwas Bewegung in ihren Schmerzbereich bringen. Schonhaltungen nutzen nicht, sondern verschlimmern das Problem. Bei Rückenschmerzen hat sich inzwischen die wissenschaftlich erhärtete Tatsache herumgesprochen, dass „Bettruhe“ klare negative Folgen hat, z.B. Lühmann et al., (2015), S. 16). Bei Kopfschmerzen braucht das Gehirn geradezu die Form der Entspannung, die sportliche Betätigung (oder besser noch: eine angenehme körperliche Tätigkeit) zu liefern vermag.

Die Schmerztherapeuten R. Liebscher-Bracht und Dr. P. Bracht haben in jüngerer Zeit mit ihren Büchern – z.B. 2018 mit dem Topseller „Deutschland hat Rücken“ – Furore gemacht. Sie haben eine Fülle an übungen entwickelt bzw. altbewährte Übungen wieder neu ins Bewusstsein gerückt, die darauf abzielen, Muskelspannungen zu lockern und Faszien wieder zu flexibilisieren. Zu „hohe muskulär-fasziale Spannungen“ (Liebscher-Bracht/Bracht, S. 218), die zum Beispiel durch unsere sitzende Lebensweise gefördert werden, sehen sie als Ursache für anhaltende Schmerzen. Die Verkürzungen, Verklebungen und Verspannungen des muskulären und des Fasziensystems unserer Körper, die ursächlich für Schmerzen sorgen würden, seien durch intensives Körpertraining korrigierbar.

Mir gefällt bei Liebscher-Bracht ihr Vertrauen in den Körper, ihr Optimismus im Hinblick auf die Linderung schon lange bestehender Schmerzsymptome und ihre vielen technischen Übungsanregungen. Etwas einschränkend möchte ich anmerken, dass sie sich mit ihren Vorschlägen zum Umgang mit Schmerzen im Wesentlichen nur auf der biomechanischen Ebene bewegen. Das kann dann problematisch sein, wenn ihre intensive Körperarbeit auch starke Emotionen weckt, die in den Körperspannungen eingespeichert sein mögen, und dann kein therapeutischer Rahmen angeboten wird, um damit umzugehen. Zudem neigen Liebscher-Bracht in ihrer Begeisterung auch dazu, Schmerzfreiheit als mögliches Ergebnis zu propagieren. Doch insgesamt überwiegt deutlich ein sehr positiver Eindruck. Ihre überaus vielfältigen Anregungen sind sicher wertvoll genug, um sie auszuprobieren. In ihrem Rückenbuch findet sich der Link: www.liebscher-bracht.com/dhr , der – wie ich der Fairness halber erwähnen möchte – „exklusiv für Käufer des Buchs“ (S. 226) sei und einen Zugang zu Anleitungsvideos zu den einzelnen Körperübungen ermöglicht.

2.4 Der Atem als Hilfsmittel

Das zweite probate Mittel, etwas frischen Wind in ihren Schmerzbereich zu bringen, sind Atemübungen. Auch das ist ein enorm reiches Feld und es finden sich zahlreiche Techniken, die hilfreich sein können. Ich beschränke mich hier auf wenige Anregungen.

Die Trauma- und Körperpsychotherapeuten Peter Levine und Maggie Phillips sehen in ihrer Form der Schmerztherapie die Wiederhinwendung zum und die Wiederbelebung des Körpers als wesentlich an. Sie gehen ausführlich auf die dissoziativen Phänomene ein, die mit traumatisch bedingten Schmerzen einhergehen und schlagen z.B. Körperspürübungen, Erdungsübungen, Übungen zu gesunder Aggression und zum Umgang mit innerem Hilflosigkeitserleben (und ähnliches) vor, um die traumatisch induzierten Abspaltungen zu verringern. Um die für Schmerzpatienten so typische Abwendung vom Körper rückgängig zu machen, empfehlen sie, das Gegenteil zu fördern, also die achtsame Hinwendung und die Verlebendigung des Körpers. Dazu verwenden sie unter anderem diverse Atemübungen. Eine davon nennen sie „Kreisförmiges Atmen“. (Eine genaue Anleitung findet sich bei Levine/Phillips (2015) auf Seite 45f.) Ich möchte Ihnen hier diese eine Übung aus dem reichhaltigen Angebot der Techniken dieser Therapeuten in Kurzform vorstellen. In ihrem empfehlenswerten Buch findet sich neben schriftlichen Anleitungen auch eine CD mit vielen weiteren hilfreichen Übungen.

Eine Atemtechnik: Kreisförmiges Atmen

„Stellen oder setzen Sie sich bequem hin, so gut die Schmerzen das eben zulassen.
Fühlen Sie die jetzige Intensität des Schmerzes und bewerten sie ihn auf einer Skala von 1 bis 10, wobei die 10 ‚absolut unerträglich‘ entspräche.
Stellen Sie sich dann vor, dass Sie durch die Körperseite, die sich momentan besser anfühlt, einatmen. Stellen Sie sich also vor, dass frische Atemluft durch den ausgewählten Fuß einströmt, in das zugehörige Bein hineinfließt und weiter nach oben strömt bis hin zu dem Punkt unserer Körpermitte. Diese fühlen wir meistens im Oberbauch. Hier kehren wir in unserer Vorstellung die Richtung des Atems um und lassen ihn durch unser anderes Bein und den Fuß nach untern und außen strömen. Dann beginnen wir wieder durch den ersten Fuß einzuarmen etc.

So entsteht allmählich in der Vorstellung eine Art Kreisbewegung der Atemluft in uns, ein Energiekreis voller Dynamik, der unsere verstopften Kanäle wieder öffnen kann. Wir wiederholen diese Form der Atmung etwa fünf Mal oder öfter, wobei wir tief ein- und ausatmen.

Bewerten Sie nun das Ausmaß des Schmerzes mithilfe der Schmerzskala. Ist alles gleichgeblieben? Hat sich etwas in ihrem Schmerzerleben verändert?“

Sollte diese kleine Übung noch nicht zu einer Linderung der Schmerzen führen, so finden sich bei Levine/Phillips weitere Varianten dieser Atemtechnik und viele andere Übungen, die nützlich sind, den Schmerzbereich aus der Stagnation zu holen und ihn wieder für den Fluss des Lebens zu öffnen.

Eine klassische Atemübung besteht darin, den Atem in der Vorstellung direkt in den Schmerzbereich hinein zu lenken und den Atem auch von dort wieder hinausfließen zu lassen. Man kann diese Übung mit der Vorstellung machen, dass mit dem Hinausströmen des Atems auch all das mit hinaus fließt, was zu unserem Schmerz beigetragen hat, gerade so, als würden wir mit jedem Einatmen frische Energie aufnehmen, um die Faust zu lockern, die unseren Schmerz umklammert hält, um dann mit jedem Ausatmen wie mit einem Seufzen unseren Schmerz loszulassen und aus uns hinausströmen zu lassen.

Dieses Herangehen kann gelingen, scheint mir aber weniger aussichtsreich als die alleinige achtsame Wahrnehmung des Schmerzes. Prof. Dr. Kabat-Zinn, der wohl bedeutendste ärztliche Praktiker unserer Zeit im Umgang mit Stress, würde empfehlen, sich allein auf das Gewahrsein des Schmerzes zu konzentrieren. Um jeden subtilen Druck zu vermeiden, der durch die Erwartung an die mögliche schmerzlindernde Wirkung unserer Übung entstehen kann, regt er an, auf jede Erwartung einer Änderung der Symptomatik, so gut es eben geht, zu verzichten. Kabat-Zinn rät ausschließlich zur achtsamen Beobachtung des Geschehens, ohne jeglichen Gedanken an eine Änderung des Schmerzes.

Empfehlenswert sind sicher Kabat-Zinns Body-Scan-Übung (i.e. eine achtsame Erkundung des gesamten Körpers) sowie eine Audio-CD mit vielen Übungen von ihm, die sich ganz dem Thema „Schmerz“ (Kabat-Zinn/Hölzel (2013) widmet. Auch eine Variante des Body-Scan mit zusätzlicher Nutzung der Atmung, die sich auf einer Audio-CD seines Achtsamkeitsbuchs (Kabat-Zinn (2013)) findet, habe ich als sehr hilfreich erlebt.

2.5 Körperspürbungen

Die bereits erwähnten Traumatherapeuten P. Levine & M. Phillips unterstützen ihre Schmerzpatienten dabei, sich wieder mit dem Körper anzufreunden. Das ist natürlich kein ganz leichtes Unterfangen. Dabei hilfreich ist, dass, egal wie lange die chronischen Schmerzzustände schon andauern, es immer Bereiche im Körper gibt, die sich gut oder zumindest neutral anfühlen. Das können Sie, geneigter Leser, sofort selbst überprüfen, indem sie kurz innehalten und sich auf ihren Körper besinnen.

Eine kurze Übung zu angenehmen Körperbereichen

„Lenken Sie ihre Aufmerksamkeit nach innen und beginnen Sie damit, ihren Körper mit Hilfe ihres Gewahrseins langsam und achtsam von unten nach oben durchzuscannen …

Nehmen sie Ihren Körper einfach nur wahr.
Stellen Sie sich dabei die folgende Frage: Welcher körperliche Bereich in mir fühlt sich gerade am besten an?
Lassen Sie sich Zeit. Wenn Sie mehrere Bereiche finden, wählen Sie einen davon aus.
Erlauben sie sich dann, an diesem Ort zu verweilen und ihn zu erkunden.
Sie könnten sich zum Beispiel fragen, mit welchen Worten sich ihre Gefühle an diesem Ort beschreiben ließen. Welche Worte passen am besten?
Sie können sich fragen, wie die Atmosphäre ist, die an diesem guten Ort herrscht.
Wie ist die Stimmung hier?
Gibt es vielleicht sogar ein Bild, das zu dieser angenehmen Stimmung passt? Eine Geste, eine Bewegung, einen Handlungsimpuls?
Und was ist das Beste an diesem Ort?
Vielleicht ist es für sie in Ordnung, sich einmal mit ihrer Aufmerksamkeit ganz hier niederzulassen und den Ort zu genießen. Bleiben Sie solange Sie wollen.
Kommen Sie hier zur Ruhe.
Breitet sich das angenehme Erleben dadurch noch weiter aus? Wird es stärker und intensiver?
Verweilen Sie hier solange Sie wollen.
Wann oder wo in ihrem Alltag könnte Ihnen diese Erfahrung nützlich sein? …
Während das Erlebte nachklingt können Sie allmählich in ihr Wachbewusstsein zurückkehren …“

(Ich habe diese schöne Übung bei der Psychologischen Psychotherapeutin Susanne Kersig (2014, S. 83) gefunden und hier nur leicht abgewandelt. Kersigs Buch „Im Dialog mit dem Körper“ kann ich im Übrigen sehr empfehlen.)

Fassen wir nun die fünfte Erkenntnis zusammen: Es gibt immer Bereiche im Körper, die sich schmerzfrei oder sogar gut anfühlen.

2.6 Pendelbewegungen

Diese Wohlfühlorte lassen sich auch so nutzen (wie Levine/Phillips dies tun), dass wir uns darin üben, zwischen Wohlfühlbereichen und Schmerzfeldern im Kürper hin und her zu pendeln. Levine/Phillips bitten etwa ihre Schmerzpatienten, im Sitzen oder Liegen mit Hilfe ihres Körperspürsinns auf eine Entdeckungsreise zu gehen. Es geht darum, Orte im Körper zu suchen, die sich angenehm und weit anfühlen. Anschließend sollen Sie die Orte im Körper spüren, die sich eng und angespannt anfühlen. Dann lassen sie den Patienten den Atem ins Zentrum der jeweiligen Wohlfühlorte bzw. der Orte des Unbehagens fließen, um so die Verbindung mit diesen Orten zu stärken. Schließlich fordern sie den Patienten auf, zwischen diesen Orten hin und her zu wechseln, um so eine Brücke zwischen den Bereichen zu schlagen. Dabei gehen Sie in aufsteigender Reihenfolge vor: Zunächst wird eine Brücke zwischen dem kleinsten Bereich des Unbehagens und einem mittelgroßen Wohlfühlort hergestellt. Erst zuletzt wird eine Verbindung zwischen dem größten Bereich des Unbehagens und dem größten Bereich der angenehmen Empfindungen hergestellt. All dies geschieht im Geist achtsamer und aufmerksamer Selbsterkundung. Auch Kabat-Zinn nutzt auf seiner Schmerz-CD diese behutsame Technik der Wiederverbindung voneinander getrennter Körperbereiche. Dadurch werden allmählich neue neuronale Schaltkreise im Gehirn etabliert, die geeignet sind, harmonischeres Erleben in uns zu erzeugen.

Neben dieser räumlichen Pendelbewegung können wir auch mit zeitlichen Pendelübungen experimentieren. Wir können in die Vergangenheit zurück gehen und uns an das letzte Mal erinnern, als wir uns gut fühlten oder zumindest weniger Schmerzen hatten und uns mit diesem Erleben verbinden. Oder wir nutzen unsere Fantasie, um in eine schmerzfreie Zukunft zu gehen. Milton Ericksons hat diesen Grundgedanken zu seiner Technik der Zukunftsprogression ausgebaut: Die Idee ist, dass das für die Zukunft ersehnte schmerzfreie Erleben mit geeigneten Mitteln schon im Hier und Jetzt – zumindest ansatzweise – fühlbar gemacht werden kann. Wir stellen uns dabei so intensiv und so körpernah wie möglich vor, wie unsere Körperhaltung und unser Selbsterleben sind, wenn wir unseren Schmerz überwunden haben werden. Da das Gehirn immer in der Gegenwart lebt, können wir also gleichsam die gewünschte Zukunft annäherungsweise schon jetzt erleben.

Rückverwandlung von Körperschmerz in seelischen Schmerz

Ich verwende gerne eine etwas dynamischere Form dieser Pendelübungen, die ich im Stehen praktiziere. Sie ist stark durch die „Problemlösungsgymnastik“ des Arztes und systemischen Hypnotherapeuten Gunter Schmidt inspiriert. Ich greife dabei zudem auf meine Erfahrungen mit spontanen Ausdrucksformen des Körpers (Bodyflow) zurück und nutze Ericksons Idee der Zukunftsprogression.

Diese Übung erfordert einige Erfahrung mit und ein Vertrauen in sich selbst und den eigenen Körper. Sie ist also eher eine Strategie für Menschen, die stabil genug sind, um auch schräge oder unliebsame Aspekte von sich zulassen zu können. Wenn das für Sie nicht zutrifft, dann machen Sie diese Übung bitte nicht bzw. nur unter Anleitung eines erfahrenen Begleiters.

Zunächst sorge ich dafür, dass ich ungestört bin und mein Raum so geschützt ist, wie ich es für diese etwas außergewöhnliche Form der Selbsterkundung benötige.
Ich besinne mich im Stehen auf den Schmerzbereich und bitte meinem Körper dann, eine Körperhaltung und einen mimischen und gestischen Bewegungsausdruck sowie den zugehörigen stimmlichen Ausdruck für den jetzigen Moment zu finden, der meinem Schmerz Ausdruck verleiht. Das heißt, ich lenke meine Aufmerksamkeit in den Schmerzbereich und schaue, welche Bewegungs- und stimmlichen Impulse von alleine entstehen und sich ausdrücken wollen. Ich lasse mich dann von diesen Impulsen leiten und folge ihnen mit meiner Bewegung und mit meiner Stimme.
Danach erkunde ich die Bewegungen und Stimmen meines Erlebens für den Moment, an dem ich mein Schmerzerleben transformiert und überwunden habe. Wie bewege ich mich und wie klinge ich, wenn ich in dieser ersehnten Zukunft jetzt angekommen bin? Wie fühle ich mich, wenn der Schmerz überwunden ist?
Danach wechsle ich immer hin und her zwischen diesen beiden Zuständen.
Meistens führt dies bei der Erkundung des Schmerzbereichs zu starken körperlichen Verdrehungen und Verrenkungen, die ich erlaube. Ich kann auch bei dieser verdrehten Körperskulptur am Bereich des intensivsten Schmerzes, der noch innerhalb meiner Schmerz- und Ertragensgrenzen liegt, innehalten und dort tief atmen. Ich lasse den Atem bewusst und achtsam in den Schmerzbereich und wieder aus ihm heraus fließen. Vielleicht entstehen Gefühle, vielleicht auch nicht. So wie es geschieht, genau so ist es in Ordnung.
Wenn ich in den transformierten Bewegungsausdruck und dessen Stimme wechsle, erkunde ich diesen neu. Was will sich jetzt ausdrücken? Wieder folge ich diesen Impulsen.
Darauf wechsle ich wieder zurück in das spontane Entfalten des Schmerzbereichs in seiner ureigenen Bewegungs- und Stimmdynamik und so weiter und so fort. Dabei kann ich erleben, dass sich die jeweiligen Ausdrucksformen weiter entfalten und ausdifferenzieren. Bei den zeitlich späteren Pendelbewegungen ist es in der Regel so, dass der jeweilige Ausdruck anders ist als zu Anfang.
Ich erkunde auch meine Grenzen und Widerstände dabei. Ich stelle mir zum Beispiel bei der Erkundung des Schmerzbereichs die wichtige Frage: WAS DARF IN MIR NICHT LEBEN? WAS DRÜCKE ICH WEG? Denn diese Fragen können mich mitten hinein führen in die Impulse und Strebungen, die ich vielleicht in der Vergangenheit in meinen ‚kleinen schwarzen Beutel‘ weggepackt habe und die dort auf Verlebendigung warten. Und vielleicht finden sich hier auch die Samen von Depression. Das Wort „Depression“ leitet sich nicht von ungefähr vom lateinischen „deprimere“ ab, was ‚herabdrücken, niederhalten‘ bedeutet.
Und beim schmerzfreien Zielzustand kann ich mich fragen: WIE BIN ICH HIER? WAS UND WIE WILL ICH LEBEN? UND WIE FÜHLT ES SICH AN, WENN ICH DAS LEBE? Es ist schön, das ganzheitlich zu erkunden.
Bei dieser Arbeit kann es zu kathartischen Erfahrungen kommen. Bilder, Erinnerungen und Gefühle können aufsteigen, die nach Ausdruck und Verständnis drängen. Ich lasse alles geschehen und bleibe aufmerksam und achtsam dabei.
Ich beende diese dynamische Pendelübung, sobald ich das Gefühl habe, dass es für heute genug ist. Als letztes nehme ich die Körperbewegung und Stimme des transformierten Zustands ein.
Oft mache ich mir Aufzeichnungen über meine Erkenntnisse in einem Notizbuch.
Als sehr gut erlebe ich es, wenn ich mir danach Zeit für eine stille Meditation nehme. Darin gebe ich meinem inneren Gesamtwissen Raum dafür, von alleine und ungestört von meinem Greifen oder Ablehnen für eine bessere Neuorganisation meiner inneren Verfassungen zu sorgen. Ich vertraue darauf, dass das genau in der Weise und der Geschwindigkeit geschieht, die für meine Entwicklung die bestmögliche ist.

Schließlich möchte ich noch auf eine weitere Übung für Mutige – ich nenne sie: Der Urlaut des Schmerzes – vorschlagen, in der es darum geht, sich mitten hinein in den Schmerz zu begeben und ihm einen direkten hörbaren Ausdruck zu ermöglichen. Wählen Sie wieder eine Zeit und einen Raum, in der und in dem Sie ungestört und mit sich alleine sind.
Beginnen Sie wieder mit dem Hineinspüren in einen Wohlfühlort. Wenden Sie sich dann ihrem Schmerzerleben zu und öffnen Sie sich für diese Empfindungen des Leids so gut es eben geht.
Wenn Sie darin angekommen sind, dann erlauben Sie sich einfach „Au“ oder „Aua“ zu sagen oder „Das tut so weh“, so als würden Sie aus der Mitte des Schmerzes heraus wehklagen. Beginnen Sie ganz bewusst mit diesem elemantaren Klagelaut „Au“ oder „Aua“, genau so, wie ein Kind seinen Schmerz beweinen, beklagen oder herausschreien würde. Es ist gerade so, als hätte der Schmerz einen eigenen Mund und als würden Sie sich gestatten, dass Ihr Schmerz einfach sein Leid klagt. Seien Sie mutig dabei. Erkunden Sie diesen Ausdruck des „Aua“. Lassen Sie den Schmerz klagen … stöhnen … seufzen … ächzen … jammern. Erlauben Sie alles. Gestatten Sie sich, weinerlich zu sein wie ein kleines Kind. Erlauben Sie sich, zu wimmern wie ein noch kleineres Kind. Gehen Sie tief hinein und lassen Sie zu, was immer kommen mag. Und seien Sie offen für Assoziationen. Vielleicht tauchen Erinnerungen auf, die mit dem Schmerz zu tun haben, vielleicht auch nicht.
Nach einigen Minuten des Erforschens erlauben Sie sich wieder zur Ruhe zu kommen, zu ihrem inneren Wohlfühlort zurückzukehren und die Erfahrung nachklingen zu lassen. Was haben Sie über sich entdeckt?

2.7 Schmerzen und unsere Beziehung zu uns selbst und den Anderen

Wie alle Symptome können auch Schmerzen Lösungen – zumindest Lösungsversuche – für ein konflikthaftes Geschehen in mitmenschlichen Beziehungen sein. Das Geschehen ist ein reales, das aus tatsächlich geschehenen äußeren Beziehungssituationen herrührt und nicht nur auf einem innerpsychisch fantasierten Geschehen beruht. Ich schreibe dies, um mich hier von klassisch psychoanalytischen Verständnissen abzugrenzen. In der Psychoanalyse gibt es beispielsweise das Konzept der konversionsneurotischen Schmerzen. Typisch dafür sei, dass ein verpönter Wunsch oder ein durch unsere inneren ethischen Werte als ungut etikettierter Affekt abgewehrt werde. Die betroffene Person lege sich dann mit Zuhilfenahme des Schmerzes sozusagen selbst unbewusst eine Buße für diesen Wunsch oder Affekt auf. Der Schmerz bringe somit den Wunsch oder Affekt in versteckter Form zum Ausdruck und bestrafe den Menschen gleichzeitig dafür. Hier sehe ich das anders. Der Schmerz entsteht aufgrund der Blockade eines inneren autonomen Lebensimpulses, wobei der Baustoff der Blockade aus den verinnerlichten, elterlich bzw. familiär vermittelten, sozialen Normen und Sollwerten zusammen gemischt ist. Der Schmerz resultiert nicht aus einer unbewussten Selbstbestrafung sondern aus dem Leiden daran, den eigengesetzlichen Anforderungen unserer autonomen Strebungen nicht folgen zu dürfen oder zu können. Unsere Über-Ich- und Ich-Ideal-Anforderungen stehen im Widerspruch zu diesen lebendigen Impulsen in uns, die sich autonom entfalten wollen.

Bei Wolf Büntig, dem Begründer des Zentrums für Individual- und Sozialtherapie (ZIST) und einem sehr erfahrenen Körperpsychotherapeuten, habe ich folgende schöne Definition von Autonomie gehört: „Autos“ kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Selbst“. „Nomos“ ist ebenfalls griechisch und bedeutet „Gesetz“. Bei Autonomie gehe es also um das Gesetz des Selbst. Es gehe um Selbstbestimmung und Eigengesetzlichkeit, jedoch ausdrücklich nicht um Eigenmächtigkeit, die immer einfach nur das machen wolle, was sie eben will. Letzteres sei typisch für dreijährige Kinder, aber nicht für reife Erwachsene. Nach Büntig sei Autonomie „Gehorsam gegenüber einem uns eingeborenen inneren Gesetz“. Dieser Gehorsam sei „die Freiheit, das zu tun, was mich will“ (Büntig (2017).

Dieses Denken führt zu einer ganz anderen Form der Selbstbeziehung als der verdinglichten und entfremdeten Form, die nach Hartmut Rosa typisch für den modernen westlichen Menschen sei. Der Ausnutzung des Körpers als Mittel zum Zweck der „Steigerung des Körperkapitals“ (Rosa) wird hier eine achtungsvolle und akzeptierende Gefolgschaft gegenüber den in unserem Körper fühlbar und erfahrbar gewordenen Strebungen nahegelegt. Einer Haltung des Benutzens des Körpers, die sehr leicht ins Ausnutzen bis hin zum Ausbeuten abgleiten kann, wird eine Haltung des interessierten Zuhörens und der Hingabe an den Körper gegenüber- besser vielleicht hinzu – gestellt. Freiheit wird hier tatsächlich zu einer Art zustimmender „Einsicht in die Notwendigkeit“, wie Adorno einmal den Begriff der Freiheit kurz und bündig definierte. Ich denke, dass diese Haltung unserer Gesundheit zuträglicher ist: „Gesundheit stellt sich ein, wenn jeder Versuch aufgegeben wird, den Körper lieblos zu benutzen“, so heißt es im „Kurs in Wundern“. Von einer Beziehung, die durch das Gefälle tätiges Subjekt (Ich) versus benutztes Objekt (Körper) charakterisiert ist, gilt es, die Beziehung zwischen Ich und Körper in eine Art Subjekt – Subjekt Beziehung zu verwandeln. In dieser Beziehung können beide Subjekte sich in ihrer Führung abwechseln. Mal ist es gut, der Führung der Ich-Vernunft zu folgen, etwa wenn die Trägheit des inneren Schweinehunds uns an Bewegung und Körpertraining hindern mag. Ein andermal ist es besser, sich der Führung unserer Körperweisheit anzuvertrauen, etwa wenn Erschöpfung und Müdigkeit uns signalisieren, dass mehr Ruhepausen erforderlich sind.

Dies verwandelt auch die unbewusste Täter-Opfer-Beziehung, die wir in der Regel zu unseren Symptomen, also auch unseren Schmerzzuständen, einnehmen. In dieser Konstellation erscheint uns der Körper als handelndes Täter-Subjekt, dessen beklagenswertes Opfer-Objekt wir sind. Das ist gewiss eine falsche Interpretation der Dinge, nichtsdestotrotz ist diese Sicht geradezu die vorherrschende Denkweise in unserer Gesellschaft. In seltenen Ausnahmen wie etwa Erbkrankheiten, in denen tatsächlich eine ererbte genetische Disposition zwingend zu einer Krankheit führt, ist diese Sichtweise tatsächlich auch berechtigt. Glücklicherweise sind diese Konstellationen jedoch selten: In nur 5 Prozent aller Erkrankungen liegt dieses eindeutig an einer entsprechenden Erbinformation.
Sehr viel bedeutsamer als die reinen Geninformationen sind epigenetische Faktoren, also die Prozesse, die das Aktivieren und das Ausschalten unserer Gene steuern. Es sind epigenetische Prozesse, mit denen sich gesellschaftliche Milieus in unseren inneren Körpermilieus niederschlagen. Die Körperzelle erscheint dabei wie der Koch, der die entsprechenden Rezepte aus dem Kochbuch unseres Genoms auswählt (vgl. Spitz 2017). Die Zellen entscheiden in Abstimmung mit dem innerorganismischen Gesamtmilieu, welche Abschnitte der Genstränge zur Produktion der benötigten Vitalstoffe – in der Regel sind das Proteine – aktiviert werden und welche nicht. Wenn sie daran interessiert sind, sich in der Wahrheit dessen zu bewegen, was tatsächlich der Fall ist, dann ist es erforderlich, sich aus der Ich=Opfer-und-Körper=Täter-Sichtweise zu lösen und auch in diesem Fall zu einer Subjekt-Subjekt-Perspektive zu finden.

Diese Subjekt-Subjekt-Beziehung zwischen Körper und Ich einzunehmen ist keine bedeutungslose philosophische Spitzfindigkeit. Tatsächlich scheint sie mir in gewisser Weise für das schiere Weiterleben der Menschheit auf dieser Erde bedeutsam zu sein. Denn der gegenwärtige ökologische Zustand der Erde ist die direkte Folge eines ausbeuterischen und räuberischen Subjekt-Objekt-Bezugs. So wie der Körper das ökologische Umfeld unserer Seele ist, so ist die Erde das ökologische Umfeld der Menschheit. Es besteht kein prinzipieller Unterschied zwischen dem Raubbau an den eigenen individuellen Ressourcen und dem gesellschaftlichen Raubbau an den Ressourcen der Erde. Sich dem eigenen Körper in der charakterisierten Subjekt-Subjekt-Perspektive zuzuwenden ist ein wichtiger Schritt hin zu fundamentalen, nachhaltigen und tragfähigen ökologischen Veränderungen. Auf das zu hören, was aus meinen inneren Tiefen aufsteigt und mich will, scheint mir auch ein Weg dahin, ein Ohr und ein Gespür für das zu entwickeln, was die Erde will.

(Wenn Sie weiterlesen möchten, dann geht es hier zum dritten Teil: 19 Schmerz lindern (3).
Die Anmerkungen und Literaturangaben finden sich am Ende des Texts zu 19 Schmerz lindern (3))