21 Ganzheit verstehen

„Der Mensch ist keine Maschine, sondern ein Organismus, und es ist sehr wichtig, den Unterschied zu verstehen. Eine Maschine hat Bauteile, ein Organismus hat Glieder. Du kannst die Teile auseinandernehmen, und nichts stirbt. Du kannst die Teile wieder zusammensetzen, und die Maschine funktioniert wieder. Aber bei einem Organismus stirbt etwas, wenn du die Glieder auseinandernimmst. Du kannst sie wieder zusammensetzen, aber dadurch wird der Organismus nicht wieder lebendig. Der Organismus ist eine lebendige Einheit; alles ist mit allem anderen verbunden.“ (Osho)

Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Artikels:

Im Text werden einige Forschungsergebnisse referiert, die die Vorstellung einer Getrenntheit von Körper und Geist und Körper und Seele, die der Struktur unserer westlichen Gesundheitsversorgung zugrunde liegt, als obsolet und falsch erscheinen lassen. Empirische Belege für diese Behauptung werden aus den Erkenntnissen der Gehirnforschung, der Untersuchung von Placebowirkungen, der Psychoneuroimmunologie, der Traumaforschung und der Epigenetik beigebracht. In einem zweiten Teil wird die Maschinenmetapher des menschlichen Körpers, die eine große Rolle im westlichen Menschenbild spielt, einer Kritik unterzogen. Die Quintessenz ist: Es gibt viele wesentliche Unterschiede zwischen einer Maschine und dem lebendigen Organismus, der unser Körper ist.

Die westliche Heilkunde ist in ihrer Alltagspraxis immer noch gekennzeichnet durch eine Medizin, die sich wesentlich auf den Körper fokussiert und sich wenig um seelische Belange kümmert und eine Psychotherapie, die um das Verstehen der Seele kreist und dem Körper wenig Beachtung schenkt. Diese Aufspaltung verdankt sich der westlichen Vorstellung, dass Körper und Seele/Geist getrennte Entitäten seien. Dieser Gedanke bestimmt wesentlich die Struktur unserer Gesundheitsversorgung.

Es ist wichtig, festzuhalten, dass diese Vorstellung sich nicht auf wissenschaftliche Evidenz berufen kann. Das Gegenteil ist der Fall. Im Lichte einiger Forschungsergebnisse des letzten halben Jahrhunderts kann man die Idee der Getrenntheit von Körper und Seele/Geist getrost als – salopp formuliert – einen toten Hund betrachten. Und einen toten Hund tritt man nicht. Es geht mir in diesem Aufsatz auch nicht um ein Nachtreten. Es geht mir darum, einige Forschungsergebnisse hervorzuheben, die zu einem Dahinscheiden der Idee der Getrenntheit von Körper und Seele/Geist geführt haben. Dies mag auch dazu dienen, einigen von uns, die es vielleicht noch nicht mitbekommen haben, darauf hinzuweisen: Dieser Hund ist tot. Schon eine ganze Weile.

Viele Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte, insbesondere in den Neurowissenschaften, haben das Bild vom Menschen verändert. Ich will im Folgenden belegen, dass die unauflösliche Verbundenheit von Körper und Geist ein wissenschaftlich erhärtetes Faktum ist. Das heißt, dass zweifelsfrei feststeht: Alles was wir denken, fühlen, sagen oder tun wirkt sich unmittelbar auf unseren Körper aus. Umgekehrt wirkt unser Körper auf all das ein, was wir denken, fühlen, sagen oder tun. Beide Prozesse sind nicht voneinander zu trennen, sondern durch unauflösliche Wechselwirkungsschleifen miteinander verbunden.

Wenn das aber so ist, dann sind wir gezwungen, unseren eigenen persönlichen Einfluss auf unsere Gesundheit und unser Krankwerden neu zu bedenken. Offenkundig können wir dann nicht mehr das Denkmodell aufrechterhalten, dass unsere Erkrankungen einfach Auswirkungen falscher genetischer Programmierungen unseres Körpers oder Defekte einer Körpermaschine sind, mit der wir außer der Tatsache, dass wir irgendwie in ihr sind, nichts zu tun haben. Ich werde mich in einem weiteren Aufsatz mit der sehr komplexen und heiklen Frage beschäftigen, was diese Erkenntnisse für unsere Verantwortlichkeit im Hinblick auf unser körperliches Schicksal bedeuten. Denn ich glaube, dass die Forschungsergebnisse nicht nur Erkenntnisfortschritte sondern auch Probleme für unser Selbstverständnis mit sich bringen, die meines Erachtens noch nicht deutlich genug gesehen und reflektiert werden.

Ich werde nun einige der wissenschaftlichen Entdeckungen und Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte darstellen, die uns zu einem neuen Selbstverständnis drängen. Einiges mag der Leserin oder dem Leser bereits vertraut sein, denn nach und nach sind einige der Erkenntnisse ins Alltagswissen der Bevölkerung eingesickert oder gerade dabei, zu einem selbstverständlichen Bestandteil des ganz gewöhnlichen Alltagsdenkens zu werden.

 

Erkenntnisse zum Geist-Körper-Zusammenhang

Erstens: Unsere Gefühle und Gedanken haben einen unmittelbaren Einfluss auf unsere Körperphysiologie (vgl. Davidson/Begley 2012). Rein geistige Prozesse können messbare Veränderungen und Reorganisationen in Aktivitätsmustern des Gehirns bewirken. Das ist in gewisser Weise banal und altbekannt. Wenn wir an unsere Lieblingsspeise denken und uns vorstellen, wie es wäre, wenn wir jetzt in ihren Genuss kämen, dann läuft uns wortwörtlich ‚das Wasser im Munde zusammen‘. Eine Idee in unserem Kopf führt zur Produktion von Speichel im Mund. Wir haben den Speichelfluss nicht bewusst erzeugt, unser unbewusstes Körperwissen hat das offenbar für uns getan. Jeder kann das bei sich selbst überprüfen.

Seit dem Ende des letzten Jahrhunderts sind wir mehr und mehr in der Lage, dem Gehirn beim Denken zuzuschauen und zugehörige, parallel ablaufende Körperprozesse sehr genau zu dokumentieren und zuordnen zu können. Mit Hilfe der Bildgebenden Verfahren in der Forschung können die Zusammenhänge zwischen geistiger Idee und der Produktion von Vitalstoffen unmittelbar sichtbar gemacht werden.

Durch diese und andere Verbesserungen der Untersuchungsmethoden lässt sich zum Beispiel nachweisen, dass die Gabe eines Placebos – also einer wirkstofffreien Substanz – oft zu denselben biochemischen Ausschüttungen führt, die eintreten würden, wenn ein Medikament mit einem potenten Wirkstoff verabreicht worden wäre. Es genügt, dem Patienten durch einen Arzt glaubwürdig zu versichern, dass das verabreichte Mittel wirksam ist. Allein die Erwartung und der feste Glaube an die Wirkung des gegebenen Stoffs erzeugen also die gewünschten Veränderungen in der Biochemie des Gehirns.

Der Placebo-Effekt ist ein Wirkfaktor, der jedem Geschehen im Gesundheitssystem genau denn innewohnt, wenn es vom jeweiligen Patienten mit Vertrauen ausgestattet wird. Dies gilt für die Verschreibung und die Einnahme eines Medikaments, für den verbalen Zuspruch und die Ermutigung des Patienten durch das medizinische Personal oder auch für die Durchführung einer Operation. Die Placebo-Forschung hat eine überwältigende Fülle an Belegen für den Gedanken erbracht, dass der Glaube und das Vertrauen des Patienten machtvolle Wirkkräfte sind.

Häufig erklären sie einen großen Prozentsatz der Wirkung der medizinischen Maßnahmen. Der (emeritierte) Regensburger Medizinprofessor Ernil Hansen wies darauf hin, dass der Placeboeffekt bei jedem beliebigen Medikament im Durchschnitt zwischen 1/3 (z. B. bei Asthma oder Bluthochdruck) und 2/3 (z.B. Reizdarmsymptom oder Depression) liege. Jede beliebige Medikamentenwirkung ist also mindestens zu einem Drittel durch die Erwartung des Patienten an die Heilwirkung des Medikaments erklärbar. Er stützt sich dabei auf eine Expertise der Bundesärztekammer (2013). Hansen referierte auch eine Metaanalyse von Studien über den Placeboeffekt bei Operationen aus dem Jahr 2015. Diese kommt zum Schluss, dass der über alle Operationen hinweg gemittelte Placeboeffekt bei 65 Prozent liege! (Hansen 2023)

Bemerkenswert ist auch, dass Forschungen zur Wirkung starker Schmerzmittel gezeigt haben, dass der Wirkungsgrad deutlich sinkt oder sogar ganz verschwindet, wenn man bei diesen Mittel nicht dazu sagt, dass es sich um die Gabe eines Schmerzmedikaments handelt. Verabreicht man also einem Patienten z.B. Morphium zur Schmerlinderung, sagt aber nicht explizit dazu, dass das gegebene Mittel diesen Zweck erfüllt, so reduziert sich der Effekt wahrgenommener Linderung drastisch. Die Mitteilung an den Patienten/die Patientin, dass er/sie nun ein potentes Schmerzmittel erhält, ist also unerlässlich dafür, dass der Wirkstoff seine volle Macht entfalten kann! Der kommunikative Akt erzeugt die gläubige Erwartungshaltung im Patienten, die erst den physiologischen und psychologischen Boden für die segensreiche Medikamentenwirkung vorbereitet.

Die beim Patienten geschürte Erwartung in die Symptomlinderung bringt diese also häufig hervor. Die amerikanische Ärztin Lissa Rankin hat in ihrer Monographie über die wissenschaftlichen Belege für die dem Menschen innewohnenden Selbstheilungskräfte unter anderem folgende Forschungsergebnisse referiert (1): „Bei annähernd der Hälfte der Asthmatiker lässt sich mit einem wirkstofffreien Inhalator oder einer Scheinakupunktur eine Verbesserung der Beschwerden erreichen.1 Etwa 40 Prozent der Kopfschmerzpatienten sprechen positiv auf ein Placebo an.2 Die Hälfte der Patienten mit Colitis fühlen sich nach einer Placebobehandlung besser als zuvor.3 Bei über der Hälfte der Patienten mit schmerzhaften Magengeschwüren stellt sich eine Linderung der Beschwerden ein, wenn man ihnen ein Placebo verabreicht.4 Mit Scheinakupunktur lässt sich die Häufigkeit von Hitzewallungen bei Frauen in den Wechseljahren halbieren5 […] In der Schmerzbehandlung sind Placebos tatsächlich annähernd so wirksam wie Morphium.6,7 Und zahlreiche Studien beweisen, dass die glücklich machenden Wirkungen von Antidepressiva fast ausnahmslos dem Placebo-Effekt zugeschrieben werden können.8“ (Rankin, 40).

 

Unser Geistkörpersystem ist auch ausgezeichnet in der Lage, äußere Hilfestellungen zu nutzen, wenn Glaube und Vertrauen zunächst nicht ausreichend waren: „Haben wir dreimal erlebt, dass ein echtes Medikament hilft, kann beim vierten Mal auch ein Scheinmedikament eingenommen werden, das genauso aussieht – mit ähnlicher Wirkung. […] Es braucht zuerst den Anstoß von außen, es braucht das wirksame Mittel; aber wenn unser Körper die Wirkung gelernt hat, übernimmt unser innerer Heiler mit seiner Apotheke.“ (von Hirschhausen, 51)

Vertrauen schaffende ärztliche Maßnahmen, die eine bestimmte Erwartungshaltung im Patienten – beispielsweise bei der Vorbereitung auf eine Operation – weckten, zahlen sich aus. An der Universität Marburg wurde eine Studie mit Menschen durchgeführt, denen in einer Operation am offenen Herzen ein Bypass gelegt werden sollte. Eine zuvor mit den Patienten durchgeführte Schulung sollte zum Aufbau einer positiven Erwartungshaltung in die guten Resultate der Operation führen. Es zeigte sich nun, dass die jeweilige Erwartung des Patienten maßgeblich dafür war, wie es ihm drei Monate nach der Operation ging! (Blech 2013, S. 63)

Ein weiteres Beispiel: Placebos wirken sogar dann, wenn den Menschen offen gesagt wird, dass es sich bei den verabreichten Mitteln um Substanzen ohne pharmazeutisch wirksame Wirkstoffe handelt. Es wurde den Patienten nur versichert, dass sich ihre Symptome „durch den Placeboeffekt verbessern“ würden. Dies zeigte Ted Kaptchuk, Arzt an der Harvard Medical School, anhand einer Studie mit Patienten mit Reizdarm-Syndrom. Die Wirkungsstärke dieser offen als Placebos deklarierten Pillen war im Übrigen ähnlich groß wie die von richtigen Medikamenten! (vgl. Blech 2013, 61)

Der Placebo-Effekt ist also keine Kleinigkeit, sondern ein sehr ernstzunehmender Faktor für eine erfolgreiche Genesung. Bemerkenswert ist auch, dass die Kraft von hoffnungsvoller Erwartung und von Genesungsglauben sehr oft die Grenze dessen markiert, was im Vollzug der medizinischen Interventionen überhaupt erreichbar ist. „Nur etwa 20 Prozent der konventionellen Medizin sind nachgewiesenermaßen wirksamer als Placebos.“ (S. 54) So fasst es der Arzt und Comedian Eckart von Hirschhausen in seinem informativen und unterhaltsamen Buch „Wunder wirken Wunder“ zusammen.

 

Glauben und Vertrauen sind immaterielle Faktoren, die offenkundig sehr starke materielle Auswirkungen auf unsere Körperphysiologie haben. Das lässt sich durch ein Modell, das Körper und Geist trennt, einfach nicht erklären.

Ebenso wenig lässt sich durch das alte Modell erklären, dass Körperphysiologien umgekehrt wieder zurück auf unsere Gedanken und Gefühle wirken: Wenn wir uns entspannt fühlen ist es sehr schwer, Angstgedanken zu denken. Wenn unser Körper hingegen überschwemmt ist von Stresshormonen wie Cortisol ist es äußerst schwierig, gedanklich zur Ruhe zu kommen. Wenn wir körperlich sehr ermattet sind oder gar chronische Schmerzen haben, geraten wir eher in depressives Fahrwasser und nähren Gedanken der Ohnmacht und des Ausgeliefertseins. Wenn wir körperlich fit sind und uns in unserem Körper wohlfühlen, fällt es uns sehr viel leichter, zuversichtliche und optimistische Gedanken zu hegen.

„Der Körper ist das Fundament des bewussten Geistes“ sagt daher einer der führenden Neurowissenschaftler, Antonio Damasio (2011, 32). Er spricht von einer permanenten „Resonanzschleife“ (ebd.), also einer unauflöslichen Wechselwirkungsbeziehung zwischen Körper und Geist. “Körper und Gehirn sind verbunden“ (ebd., 33, Hervorhebung im Orig.).  All das ist gut belegt.

 

Zweitens: Zwischenmenschliche Erfahrungen beeinflussen die Art und Weise, wie unsere Gene ihre Arbeit verrichten (Bauer 2004)! Diese Erkenntnis ist revolutionär und faszinierend. Daher kann etwa eine Psychotherapie nachweislich die Art und Weise positiv verändern, wie unsere Gene arbeiten und so unmittelbar die Körperphysiologie des Patienten – und des Therapeuten – günstig beeinflussen. Die Kehrseite dieser Erkenntnis ist, dass Beziehungen zu anderen Menschen uns tatsächlich auch krankmachen können.

Wir verdanken diese Einsichten der neuen Wissenschaft der Epigenetik (vgl. Spork 2009). Sie belehrt uns – sehr verstärkt seit Beginn des aktuellen Jahrtausends – darüber, dass es nicht die Gene sind, die unser Schicksal bestimmen. Der Grund dafür ist, dass Gene über Ein- und Aus-Schalter verfügen und aktiviert oder stummgeschaltet werden können. Welche Gene aktiviert oder ausgeschaltet werden, darüber entscheidet die einzelne Körperzelle im Einklang mit dem Gesamtverbund aller Körperzellen.

Die Gesamtheit unserer gut 20.000 Gene lässt sich vergleichen mit einem Kochbuch, das alle möglichen Rezepte für die Herstellung von Vitalstoffen wie etwa Proteinen enthält. Welches Rezept nun im jeweiligen Moment umgesetzt wird, zu unserem Nutzen oder zu unserem Schaden, das entscheidet, bildlich gesprochen, der Koch in jeder einzelnen Körperzelle, der sich auf bislang noch ungeklärte Weise mit all den anderen Köchen bzw. Körperzellen abstimmen kann. Die Körperzellen entscheiden dies offenbar nach Maßgabe des vorherrschenden innerseelischen und physiologischen Milieus, in dem sie ihre Tätigkeit verrichten. Dieses innere Milieu wird vor allem durch unser bewusstes und unbewusstes Denken erschaffen. Es ist gleichsam so, als lausche der Körper unseren Selbstgesprächen und übersetze deren emotionale Färbungen in entsprechende organische Stoffe.

Indem wir Einfluss nehmen auf die Gestaltung unseres inneren physiologischen Milieus, können wir die Wahrscheinlichkeiten für das Aktivieren oder Abschalten bestimmter Gene verändern. In einer inneren Atmosphäre der Hilf- und Hoffnungslosigkeit werden andere Gene eingeschaltet als in einem inneren Milieu, das durch Optimismus und Selbstvertrauen geprägt ist. Es ist daher nicht überraschend, dass Depressivität ein Faktor ist, der unsere Anfälligkeit für sehr viele körperliche Erkrankungen erhöht.

All das hat äußerst wichtige Konsequenzen. Denn es bedeutet, dass es keineswegs zwangsläufig so sein muss, dass ein bestimmtes Gen, das der Träger einer für unsere Gesundheit ungünstigen Erbinformation ist, aktiv werden muss. Selbst wenn wir also beispielsweise der Träger eines Gens sein sollten, das in Verbindung mit Brustkrebs gebracht wird – wie das Gen BRCa1 – so heißt das keineswegs, dass wir tatsächlich an Krebs erkranken werden. Tatsächlich geschieht das in Bezug auf das genannte Gen nur in 50 Prozent der Fälle. Durch unseren Lebensstil und geeignete innerseelische Prozesse sind wir prinzipiell in der Lage, dafür zu sorgen, dass dieses Gen stumm und inaktiv bleibt.

 

Drittens: Wir haben seit etwa Mitte der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts über den Forschungszweig der Psychoneuro­immunologie gelernt, dass die früher als getrennt gedachten Körpersysteme des Nervensystems und des Hormon- und Immunsystems keineswegs unabhängig voneinander operieren, sondern in einem einzigen Netzwerk miteinander verbunden sind (Schubert 2011).

Der Psychologe Robert Ader wies als erster nach, dass die Produktion der Abwehrstoffe unseres Immunsystems sich in ähnlicher Weise konditionieren lässt wie Pavlov das paradigmatisch für den Speichelfluss von Hunden demonstriert hatte. Das hat sehr praktische Auswirkungen: Zum Bespiel kann man Menschen beibringen, eine eventuell sehr teure Wirkstoffsubstanz durch eine sehr viel günstigere – eventuell sogar wirkstofffreie ‚Arznei‘ – zu ersetzen, indem man einfach zunächst beide zusammen verabreicht, sie also assoziativ aneinanderkoppelt. Aufgrund der so konditionierten Immunantwort wird das Ergebnis ebenso zufriedenstellend sein, wenn man nach einer Weile nur den günstigen Stoff verabreicht.

Bereits 1990 zeigte Howard Hall, dass geschulte Versuchspersonen mit Hilfe ausgewählter bewusster Strategien in der Lage waren, die zur Krankheitsbekämpfung nützliche Aggressivität der Leukozyten, i.e. Bestandteilen des Immunsystems, zu erhöhen. Bewusste Interventionen können also die Zellfunktionen des Immunsystems direkt beeinflussen (vgl. Pert (1997), 292), was uns offenkundig neue Möglichkeiten an die Hand gibt, etwas für unsere Gesundheit zu tun. Dass wir über geistig-seelische Prozesse Einfluss nehmen können auf unser Immunsystem – dieser neue Gedanke wurde seither immer wieder durch empirische Forschung bestätigt.

Eine Vorkämpferin der Psychoneuroimmunologie war Candace Pert, eine amerikanische Pharmakologin und Neurowissenschaftlerin, die sich als Entdeckerin des Opiatrezeptors im Gehirn verdient gemacht hat. Diese erstaunliche Leistung gelang ihr 1972 als Doktorandin. Die Entdeckung war sehr bedeutsam, da sie die Vermutung nahelegte, dass der Mensch, dessen Gehirn über einen Rezeptor für ein Opiat verfügte, wohl auch in der Lage sein müsste, die zum Rezeptor passenden körpereigenen Opiate herzustellen. Opiate sind nicht nur Stoffe, die euphorisieren und glücklich stimmen können; sie sind auch hervorragende Schmerzmittel. Das menschliche Gehirn würde somit in seiner „Hausapotheke“ auch über selbst hergestellte Substanzen verfügen, die nicht nur Hochstimmung erzeugen könnten, sondern auch sehr gut zur Schmerzlinderung taugten. Die Vermutung der körpereigenen Produktion eines eigenen Opiats bewahrheitete sich: 1975 wurden die zugehörigen körpereigenen Substanzen von einer schottischen Forschergruppe gefunden und zunächst Enkephaline genannt. Später wurden sie von amerikanischen Forschern umgetauft und sind seither als Endorphine allseits bekannt. Ende der 70iger Jahre wurde dann zum ersten Mal der Nachweis geführt, dass Placebos die Ausschüttung von Endorphinen genauso stimulieren können, wie das ein schmerzstillendes Medikament täte (vgl. Dispenza (2018), 70).

 

Viertens: Gesellschaftliche Prozesse schreiben sich – vermittelt über unsere zwischenmenschlichen Erfahrungen mit den für uns bedeutsamen Menschen – insbesondere in den Anfängen unseres Lebens – in unsere Körper ein. In unserem Körper spiegelt sich die Geschichte unserer Lebenserfahrungen wider. Insbesondere seit den Arbeiten von Wilhelm Reich in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts hatten Körperpsychotherapeuten stets behauptet, dass unsere frühkindlichen Erfahrungen in unseren Körpern aufbewahrt werden und sie haben diese Prozesse der Umwandlung von psychosozialen Erfahrungen in die individuelle Körperorganisation sehr differenziert beschrieben. Der Körper speichere und spiegele also die in unserem Leben gemachten Erfahrungen. Daher konnte Reich im Hinblick auf Muskelverspannungen schreiben: „Jede muskuläre Verkrampfung enthält in sich den Sinn und die Geschichte ihrer Entstehung.“ (Reich 1949, 227) Die Körperpsychotherapeutin Gerda Boyesen ging über Reich hinaus und verortete die Folgen schwieriger Kindheitserfahrungen in sämtlichen Geweben des Körpers und seines Energiefeldes. Sie entwickelte unter anderem den Begriff eines Gewebepanzers, um zu verdeutlichen, dass unaufgelöste seelische Traumatisierungen sich auf alle stofflichen Strukturen und Organe des Körpers auswirken. Die allgemeine Grundaussage war, dass sich belastende frühkindliche Erfahrungen in den gesamten Körper einschreiben und so die Gesundheit und das Wohlbefinden des späteren Erwachsenen gefährden. Es ist faszinierend, zu sehen, dass die aktuelle Traumaforschung dabei ist, präzise empirische Belege für das nachzureichen, was Körperpsychotherapeuten (und insbesondere die Biodynamik der Gerda Boyesen) als organismische Panzersysteme (Systeme der körperlichen Erstarrung, Immobilisierung, Verödung, der Einkapselung) beschrieben haben. Ich komme darauf zurück.

Wie schon Reich haben sich auch zeitgenössische Körperpsychotherapeuten bei ihrer Theoriebildung vor allem auf ihr reiches Erfahrungswissen berufen, das sie aus einer Fülle an Fallgeschichten gewonnen hatten. Statistisch belastbare empirische Daten zur Untermauerung dieser Beobachtungen waren jedoch lange Zeit Mangelware. Die wissenschaftliche Erkenntnislage hat sich inzwischen deutlich verändert. In der Tat gibt es nun überzeugende Belege dafür, die wir Langzeitstudien wie etwa der ACE (Adversive Childhood Experiences)-Studie verdanken, dass sich frühkindliche Erfahrungen in unsere Körper und Gehirne einschreiben (vgl. Bartens 2012; vgl. van der Kolk 2015, S.175ff). Die Qualität zwischenmenschlicher Erfahrungen bestimmt in ausgeprägter Weise den Aufbau und die Funktionsweise unseres Körpers und damit auch unserer Gehirnphysiologie.

Das ist nicht verwunderlich. Als Menschen sind wir grundsätzlich soziale Wesen. Wir wachsen neun Monate in einem anderen menschlichen System heran und unser Überleben als Baby und Kind hängt vollständig von der Existenz und tätigen Fürsorge anderer Menschen ab. Unsere gesamte Persönlichkeits­organisation hinsichtlich unseres Selbstbilds, unserer Emotionen, der Glaubenssätze und Überzeugungen, schließlich sogar unseres Körpers bildet und entfaltet sich in mitmenschlichen Erlebnissen und Erfahrungen. Die Gewalttätigkeit unseres frühen familiären Umfelds schreibt sich ebenso in unseren Körper und die Schaltkreise seines Gehirns ein wie dessen Freundlichkeit und Zugewandtheit.

Die Liebe unserer Eltern wird uns auf allen Ebenen unseres Daseins formen und uns im Leben segensreich begleiten. Ebenso bauen wir jedoch auch die Überforderungsge­fühle und die realen Unfähigkeiten unserer Mütter und Väter in die Funktionskreise unseres Körpers und Gehirns ein. So wie ein Wein geprägt ist von der Beschaffenheit des Bodens und von Wind und Wetter der besonderen geographischen Lage des Weinstocks, aus dem er gekeltert wurde, so sind auch wir durchdrungen von der emotionalen Atmosphäre unserer familiären Wurzeln. Das ist nicht nur eine Metapher, sondern ein hartes Faktum.

Ich will das Gesagte exemplarisch belegen. Die noch sehr junge Forschungsrichtung der Epigenetik, von der bereits die Rede war, fand erst vor wenigen Jahren heraus, dass wir Menschen offenbar mit einem Anti-Stress-Gen geboren werden. Dieses Gen enthält die wesentlichen Informationen und Programme, die es uns gestatten, die biochemischen Stoffe zu aktivieren, die wir zu einer guten Selbstberuhigung benötigen. Dieses Gen ist bei unserer Geburt jedoch noch versiegelt d.h. es ist inaktiv. Diese Tatsache verdankt sich vermutlich der evolutionären Notwendigkeit, angesichts der eigenen Hilflosigkeit und völligen Abhängigkeit eines Neugeborenen bei jeder Gefahr oder Spannung durch unser Schreien massiv auf uns aufmerksam zu machen, um so eine hilfreiche Handlung der Pflegepersonen auszulösen. Dieses Anti-Stress-Gen wird nun faszinierenderweise erst durch die liebevolle Zuwendung der Mutter (bzw. der Hauptpflegeperson) entsiegelt! Das Gen nimmt also erst dann seine unseren Stress lindernde Tätigkeit auf, wenn ein freundlich-liebevoll-zugewandtes emotionales Umfeld uns signalisiert hat, dass unser Leben sicher und geschützt ist. Erst diese Erfahrung der Geborgenheit aktiviert das Gen. Erst dann werden die entsprechenden biochemischen Substanzen ausgeschüttet, die mit einem Gefühl wohltuender Entspannung und des inneren Friedens einhergehen.

Gelingt es unseren Eltern nicht, uns in unseren ersten Lebensjahren, die durch so viel reale Ausgeliefertheit, tatsächliche Ohnmacht und Hilflosigkeit gekennzeichnet sind, in guter Weise zu beruhigen, so haben wir später im Leben oft Schwierigkeiten, unsere Bedürfnis­span­nungen eigenständig zu regulieren. Ein typisches Begleitsymptom von Entwicklungstraumata ist die sogenannte Hypervigilanz, eine starre, zwanghaft und übertrieben anmutende Wachsamkeit und Übererregung, die das vertrauensvolle Loslassen erheblich erschwert. Wir schaffen es dann nur mit erheblichen Anstrengungen, wenn überhaupt, uns zu entspannen. Unsere Fähigkeit zur Selbstberuhigung hängt somit ganz entscheidend davon ab, wie annehmend und einfühlsam die Atmosphäre unserer frühesten Kindheit war.

Neben der Erfüllung unserer körperlichen Grundbedürfnisse brauchen wir in den ersten Lebensjahren Körperkontakt, Beachtung und Zuwendung. Werden nur unsere körperlichen Bedürfnisse gestillt, bleiben wir aber in psychischer Hinsicht unbeachtet, unberührt, einsam und verlassen, dann mag sich so große Hoffnungslosigkeit in uns ausbreiten, dass wir sogar daran sterben können. Rene Spitz hat dies in den 50-iger Jahren des letzten Jahrhunderts mit seinen Aufsehen erregenden Studien zum Hospitalismus von in Heimen untergebrachten Waisenkindern eindrücklich dokumentiert.

Die in früher Kindheit erfahrenen Traumata hinterlassen nicht nur körperliche Spuren in den synaptischen Netzwerken unserer Gehirne, die über Jahrzehnte erhalten bleiben können und abgetrennt von der restlichen Entwicklung des Menschen jederzeit aktivierbar bleiben. Die Traumaforschung hat sich lange Zeit auf die Erforschung der Wirkungen aversiver Ereignisse auf unser Gehirn konzentriert. Das hat sich geändert. Die aktuelle Traumaforschung hat sich dem ganzen Körper zugewandt und ist in der Lage, Traumafolgestörungen bis hinunter zu den feinsten Strukturen unserer Körperzellen zu dokumentieren. Es ist inzwischen bis auf molekularer Ebene nachgewiesen, dass frühkindliche Traumata und Vernachlässigung biologische Narben zurücklassen, die Menschen zeitlebens schwächen können und nicht einfach zu überwinden sind (Vgl. Bartens 2012, van der Kolk 2015).

Die Traumaforschung hat in den letzten Jahrzehnten deutlich an Bedeutung gewonnen. Nicht wenige sehen im Trauma den zentralen Begriff für die Prozesse, die eine Pathologie auslösen können. Die Traumaforschung hat uns also in gewisser Weise mit Wissen darüber versorgt, was einer jeden Erkrankung letztlich zu Grunde liegen könnte.

Unsere Körperphysiologie formt sich, bis hinunter zur Aktivität unserer genetischen Ausstattung, in den frühen bedeutsamen mitmenschlichen Situationen. Waren diese traumatisch, erfahren wir in de Regel über unser ganzes Leben hinweg mehr Stress und haben weniger Möglichkeiten, diesem zu begegnen. Traumata zerstören die innere Einheit und die Ganzheitserfahrung von Körper, Geist und Seele. Sie erschweren das Gefühl der Verbundenheit mit sich selbst, mit anderen, mit dem eigenen Körper.

Der renommierte Traumaforscher und Neurowissenschaftler Bessel van der Kolk sieht in der Gehirnstruktur der Insula das entscheidende Bindeglied zwischen Geist (Mind) und Körper. Bei traumatisierten Menschen weise die Insula nach van der Kolk erhebliche Abnormitäten auf. Die introspektive Körperwahrnehmung sei gestört. Das habe Folgen: Man isst weiter, auch wenn man eigentlich satt ist; Schwangerschaften werden nicht bemerkt: Gefühle werden nicht wahrgenommen, Bedürfnisse übergangen: und überall lauern Trigger, die zu unheilsamen Gefühlen und Handlungen führen etc.

Die Erfahrungen von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein, die typisch für traumatisches Erleben sind, werden im Gehirn in einem dissoziierten Bereich aufbewahrt. Die Abkapselung durch die Dissoziation erschwert die Bearbeitung und Überwindung der traumatischen Erfahrung erheblich. Oft bleibt die Sprengkraft der dissoziierten Emotionen und Gedanken zeitlebens erhalten und verunmöglicht ein Wohlgefühl im Sein. Wie sollte man sich auch wohlfühlen können in einem Körper und Geist, in dem nicht entschärfte seelische Bomben jederzeit hochgehen könnten. Traumalast und die Fähigkeit, sich zu entspannen, stehen in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis zueinander.

Und wie steht es um den Schlaf, der doch so viele segensreiche regenerative Aufgaben erfüllen kann? Wie kann Schlaf gelingen, wenn Schlafen umso leichter geschieht, je geborgener wir uns in unserem Leben fühlen? Einschlafen ist ein Loslassen, ein Sich-Fallenlassen, ein Sich-Anvertrauen an diese inkarnierte Existenzform, die autonom dafür Sorge tragen wird, dass ich auch ohne wachbewusst und präsent zu sein und ohne eigenes Zutun am nächsten Morgen erholt erwachen werde.

Van der Kolk weist auch darauf hin, dass ein bestimmtes Areal im mediofrontalen Kortex bei traumatisierten Menschen sehr gering ausgebildet ist. In diesem Gehirnareal sei die Fähigkeit angesiedelt, sich selbst zu beobachten und zu entscheiden, wie man mit den eigenen Emotionen und Impulsen umgehen mag. Er vergleicht den Bereich mit einer Kommandobrücke, einem Wachturm, einem Steuerpiloten, der entscheidet, wie sehr wir von unseren Emotionen gekidnappt werden oder wie sehr es uns gelingt, sie wahrzunehmen, uns aber nicht von ihnen mitreißen zu lassen. Während dieses wichtige Steuerungszentrum also bei traumatisierten Menschen wenig ausgebildet und damit auch recht kraftlos ist, weisen Forschungen nach, dass Menschen, die sehr häufig meditieren, das Gehirnareal durch diese Technik deutlich vergrößern und stärken können. Van der Kolk verweist auf die Arbeit des Neurowissenschaftlers Richard Davidson im indischen Dharamsala, der die Gelegenheit hatte, Langzeitmeditierende wie die dort im Exil lebenden tibetischen Mönche und Nonnen mit teilweise 33.000 Stunden Meditationserfahrung zu untersuchen. Bei diesen sei der in Frage stehende Gehirnbereich sehr groß gewesen. Der innere „Wachturm“ habe bei ihnen „gestrahlt wie ein Leuchtturm“, wie es van der Kolk formuliert. Es ist klar, dass Menschen mit guter Selbstwahrnehmung und Selbstbeherrschung bessere Karten für die Gestaltung ihres Lebensglücks haben als Menschen, die nicht wissen, was sie empfinden und welche Bedürfnisse sie haben und die von jeder Gefühlsaufwallung überschwemmt und mitgerissen werden.

Die Ulmer Traumaforscherin und Molekularbiologin Iris Kolassa referierte in einem jüngeren Vortrag (Kolassa 2022) weitere empirische Befunde: Je mehr Traumata ein Mensch erlebt hat, desto schlimmer seien die Auswirkungen. Traumata wirken kumulativ.  Doch die Wirkungen von Traumata addieren sich nicht einfach. Liegt eine Kindheitstraumatisierung vor, dann wirken sich spätere zusätzliche Traumata ungleich schwerer aus als dies bei Menschen der Fall ist, die eine recht behütete Kindheit hatten und später ein Trauma erleben. Die Summe an Lebenszeitstress wirkt sich unmittelbar auf unsere seelische und körperliche Gesundheit aus. Bei einem hohen Ausmaß an Lebenszeitstress wird der Einfluss der Genetik immer geringer. Eine posttraumatische Stresserkrankung beschleunigt, ebenso wie eine depressive Erkrankung, die Alterung unseres Immunsystems: Bei einer Person mit diesen Erkrankungen geht man durchschnittlich von der vorzeitigen Alterung (und damit einer geringeren Funktionstüchtigkeit) des Immunsystems um 15-30 Jahre aus! Bei Überlebenden von Krieg und Folter zeigen sich sowohl DNS-Schädigungen als auch Beeinträchtigungen der in uns eingebauten DNS-Reparaturmechanismen.

Traumalast und Depressivität wirken sich negativ auf unseren mitochondrialen Stoffwechsel aus; das heißt, dass wir über weniger Lebensenergie verfügen können. Mitochondrien sind diejenigen Zellstrukturen, die den zentralen biologischen Energieträgerstoff (Adenosintriphosphat, ATP) unseres Körpers erzeugen. Sie gelten als Kraftwerke der Körperzellen. Ist ihre Anzahl verringert oder ihre Funktionsweise und interne Kooperation durch ein gestresstes inneres Milieu beeinträchtigt, so haben wir schlicht weniger Kraft und Energie. Es gilt, laut Kolassa: Je stärker die Depression, desto weniger ATP kann produziert werden und desto kürzer auch die Telomere unserer Chromosomen. Die Telomere gelten als Indikatoren unserer Lebenserwartung: je kürzer sie sind, desto kürzer ist auch unsere Lebenspanne. (Vgl. Kolassa 2022)

In Zeiten, in denen die Zahlen der Betroffenen für das Chronische Müdigkeitssymptom (CFS) und allgemeine Erschöpfungszustände (wie auch bei Long Covid) explodieren, scheinen mir diese Hinweise auf die Funktionsstörungen unseres zellulären Energiestoffwechsels besonders bedeutsam.

Unsere Körperorganisation ist also nicht einfach die Folge eines Genprogramms, das sich quasi automatisch und unabhängig von Milieubedingungen vollzieht. Entscheidend für unser Lebensschicksal ist nicht allein unsere Genausstattung – die im Übrigen bei „allen Menschen untereinander zu 99,9% identisch ist“ (Bauer 2004, 232) – sondern die Art und Weise, wie unsere Gene reguliert werden. Diese Regulation hängt „von Signalen ab, die aus der Zelle selbst, aus dem Gesamtorganismus oder aus der Umwelt kommen können“ (Bauer, ebd.).

Ich fasse zusammen, was inzwischen als wissenschaftlich belegte Wahrheit gilt: Gene verrichten nicht schicksalhaft ihre Arbeit, sondern werden in ihren Aktivitätsmustern psychosozial gesteuert. Gute mitmenschliche Erfahrungen wie Nähe, Geborgenheit und liebevoller körperlicher Kontakt statten uns nachweislich mit einer größeren lebenslangen Fähigkeit aus, mit Stress umzugehen. Negative Erfahrungen wie Vernachlässigung und Traumata wie Misshandlungen oder Missbrauchserfahrungen hinterlassen hingegen deutliche biologische und seelische Spuren, die uns – unbearbeitet – zeitlebens schwächen und zu schweren Erkrankungen beitragen können. Darüber hinaus sind sie geeignet, unsere Lebensdauer zu verkürzen.

Fünftens: Seit den 90iger Jahren des letzten Jahrhunderts wissen wir, dass wir über sogenannte Spiegelneuronen verfügen. Dieser besondere Typus von Nervenzellen ist offenbar die biologische Grundlage dafür, dass wir empathische Wesen sind, fähig dazu, mitzuempfinden, was andere Menschen fühlen. Allein die Wahrnehmung, genauer: die mehr oder minder bewusste Ausdeutung der emotionalen Verfassung einer anderen Person stimuliert über die Tätigkeit der Spiegelneuronen ein ähnliches Erleben in uns. (Bauer ebd.) Das bedeutet, dass wir über den geistigen Prozess der Deutung des Geschehens in einer anderen Person starke fühlbare und natürlich auch biochemisch messbare Veränderungen in uns auslösen können.

Darüber hinaus wissen wir nun, dass unser Gehirn über eine enorme Lernfähigkeit und Flexibilität verfügt. Diese Fähigkeit des Gehirns nennen Wissenschaftler Neuroplastizität. Wenn wir Neues lernen verändern wir buchstäblich unser Gehirn. Neue geistige Inhalte verändern den materiellen Aufbau des Gehirns – die Software ist in der Lage, die Hardware neu zu verdrahten.  Kennen Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, eine Maschine, die so etwas vermöchte? Ich nicht.

Und wir wissen nun, dass das früher für völlig ausgeschlossen gehaltene Neuentstehen von Nervenzellen offenkundig in jeder Phase des Lebens möglich ist. ‚Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr‘ – dieser alte Spruch gilt nicht mehr. Hans kann Neues lernen, auch noch in hohem Alter.

 

Die Unzulänglichkeit der Maschinenmetapher

All diese Erkenntnisse zwingen uns dazu, anzuerkennen, dass unser menschlicher Körper kein mechanisches Ding ist, das getrennt von uns existiert. Der Körper ist kein Auto. Damasio sprach von einer unauflöslichen „Resonanzschleife“ zwischen unseren organismischen und unseren geistig-seelischen Aspekten. Schon dieser Gedanke permanenter Wechselwirkungen bedeutet, dass die Analogie der Autoreparatur, die so häufig für unseren Umgang mit unserem Körper und seinen Erkrankungen verwendet wird, nicht stimmig ist.

Die Analogie der Autoreparatur beschreibt den gesellschaftlich normalen Umgang mit dem eigenen Körper und seinen Symptomen so: Wenn unser Auto Probleme macht, suchen wir die Reparaturwerkstätte auf, um das schadhafte Teil zu reparieren oder zu ersetzen. Genauso gehen wir zum Arzt oder zum Therapeuten, damit der den schadhaften Teil in uns repariert oder entfernt und durch etwas Gesundes ersetzt.

Die Einfachheit und Eingängigkeit dieser Analogie mag der Grund dafür sein, dass wir so sehr geneigt sind, an dieser Idee festzuhalten, während uns die aktuelle Forschung immer eindringlicher belehrt, dass der Vergleich im Wesentlichen falsch ist.

Auch wenn dies schon häufig von anderen Autoren geschehen ist, möchte ich die Argumente gegen das Maschinenmodell des menschlichen Körpers doch etwas ausführlicher darlegen, um seine Unzulänglichkeit für das Verständnis des menschlichen Körpergeistsystems noch deutlicher sichtbar zu machen.

Unser Körper und eine Maschine wie das Auto unterscheiden sich in vielen Aspekten: Sie unterscheiden sich im Hinblick auf ihre Fähigkeit zur Selbstheilung, ihre Entstehungsgeschichte und die Art und Weise ihrer Höherentwicklung, ihrer inneren Organisationsform, ihrer Selbstreflexivität bzw. dem Mangel derselben, der Fähigkeit zur Bedeutungszuschreibung, dem Grad ihrer Resilienz usw.

Betrachten wir diese Aspekte nun im Einzelnen.

Selbstheilung:

Das Wunderwerk des menschlichen Körpers ist fähig zur Selbstheilung. Autos mögen technische Wunderwerke sein, doch selbst heilen können sie sich nicht. Eckart von Hirschhausen (ebd. 244) schlägt scherzhaft ein kleines Experiment vor, um sich den gravierenden Unterschied zwischen Mensch und Maschine in dieser Hinsicht zu verdeutlichen. Er regt an, sich zunächst mit einer aufgebogenen Büroklammer einen kleinen Kratzer in der eigenen Haut zuzufügen. Er prognostiziert, dass dieser Kratzer nach drei Tagen so vollständig verheilt ist, dass Sie nicht mehr sehen können, wo er war.

Anschließend schlägt er vor, mit derselben Büroklammer einen ebenso leichten Kratzer ins Auto Ihres Nachbarn zu ritzen und anschließend jeden Tag nachzuschauen, ob der Kratzer auch von allein wieder verschwunden ist. Das tut er natürlich nicht.

Entstehungsgeschichte und Art und Weise ihrer Höherentwicklung:

Eine Maschine ist eine von Menschen erdachte, auf einen bestimmten Zweck hin geplante Konstruktion, deren Einzelteile in je spezifischer Anordnung zusammengefügt wurden. Keines der Einzelteile wäre für sich allein in der Lage, die Funktion der Maschine zu erfüllen.

Unser Körper ist völlig anders entstanden: Betrachten wir die evolutionäre Geschichte unseres Organismus, sehen wir auf etwa 3,8 Milliarden Jahre Entwicklung des Lebens auf der Erde zurück, die mit Bakterien begann und sich in Einzellern mit einem abgegrenzten Zellkern und den darin enthaltenen Erbinformationen unserer DNS fortsetzte. Faszinierend ist, dass in der Evolution des Lebens kein einmal erfolgreiches System weggeworfen wurde, sondern selbsttätig und selbstschöpferisch in eine jeweils höhere Organisationsform eingebunden wurde. In den einzelligen Lebewesen taten sich die Bakterien in gewisser Weise zusammen, um ein neues Lebewesen zu schaffen.

Nach Damasio seien auch Mitochondrien, also die Kraftwerke unserer Körperzellen, so entstanden: „Bakterien gaben ihre Unabhängigkeit auf und wurden Teile eines nützlichen neuen Ganzen. Bakterien eines bestimmten Typs wurden zu Mitochondrien …“ (Damasio, ebd. 45). Mitochondrien sind jene Zellorganellen, die auch heute noch in jeder unserer Milliarden Körperzellen vorhanden und dort vor allem für die Energieproduktion verantwortlich sind. So entwickelte sich unser Organismus über Jahrmillionen als eine komplexe Selbstorganisationsform einzelner Zellen, denen von Beginn an eine „unerschütterliche Entschlossenheit“ innewohnte, „so lange am Leben zu bleiben, wie es ihnen die Gene in ihrem mikroskopisch kleinen Zellkern befahlen“ (ebd.  46). Damasio spricht von einer „gewaltigen Komplexität“ und „bemerkenswerten Intelligenz“ des „versteckten Wissens“ (ebd. 48), das das Lebensmanagement auch schon der frühen Lebensformen auszeichnete.

Im Körper sind wir also mit einer Wesenheit zusammen, die in etwa 3,8 Milliarden evolutionärer Reifungszeit des Lebens auf dieser Erde gewachsen ist. Dass sich in diesem langen Zeitraum eine staunenswerte organismische Weisheit entwickelt hat, bleibt ein Wunder, doch war schon viel Zeit für Versuch und Irrtum. Unser Denken hat gerade mal etwa 100 Jahre Zeit, um selbst ein wenig Weisheit zu entwickeln. Ist da nicht Demut angemessen und eine Verbeugung vor der inkarnierten Weisheit, die unser Körper ist?

Innere Organisationsform:

Unser jetziger Körper ist das momentane Zwischenergebnis – der Prozess evolutionärer Veränderung schreitet weiter voran – einer komplexen Gesellschaftsform einzelner Zellen, die sich autopoetisch zu Geweben, Organen und Organsystemen zusammengefügt haben. Sowohl ein elementarer Überlebensdrang als auch eine Tendenz zur Höherentwicklung im Sinne fähigeren Lebensmanagements scheint evolutionär in uns angelegt zu sein. Und in der individuellen Entwicklung von der befruchteten Eizelle bis hin zu einem Neugeborenen vollziehen sich die evolutionären Schritte noch einmal, gleichsam im Zeitraffer.

Anders eine Maschine. Eine Maschine ist weder zur Selbstschöpfung noch zur Selbstorganisation in der Lage. Sie ist abhängig vom Erfindungsgeist eines kreativen Menschen und ohne diesen nicht existenzfähig. Weder können die Einzelteile eines Autos gleichsam aus dem Nichts heraus entstehen, noch können sie sich – aus sich selbst heraus und geleitet von einem ordnenden Prinzip – zu so einem komplexen Gebilde wie einem Auto zusammenfügen.

Spinnen wir Hirschhausens Gedankenexperiment etwas weiter. Wenn Sie unwahrscheinlicher Weise den zuletzt formulierten Gedanken nicht teilen, könnten Sie versuchsweise das Auto ihres Nachbarn in sämtliche Einzelteile zerlegen, diese sorgfältig in einer Halle aufreihen und dann darauf warten, dass sich irgendwann von alleine ein vollständiges Fahrzeug zusammenbaut. Das könnte allerdings etwas dauern. Ich fürchte, dass auch 3,8 Milliarden Jahre Zeit nicht ausreichen werden, damit das geschieht.

Der hypnosystemische Arzt und Psychotherapeut Gunther Schmidt erläutert die völlige Unzulänglichkeit der Autoreparatur-Analogie anhand des Unterschieds zwischen linearen mechanischen Systemen wie einem Toaster oder Auto und komplexen lebenden Systemen, wie das wir Menschen sind, die eben durch Selbstschöpfung, Selbstorganisation und permanente Wechselwirkungs­prozesse gekennzeichnet sind.

Selbstreflexivität bzw. der Mangel derselben, die Fähigkeit zur Bedeutungszuschreibung und zur Resilienz:

Nehmen wir einmal an, sie hätten das Auto des Nachbarn doch wieder selbst zusammen­gebaut, nachdem er Ihnen Prügel angedroht hatte, falls Sie das nicht tun. Als kleine Rache für seine an Sie gerichteten Schimpfworte haben Sie aber die intakten Zündkerzen seines Autos durch kaputte ersetzt. Nun stehen Sie frühmorgens am Fenster und sehen ihrem Nachbarn zu, wie er sein Auto zu starten versucht. Natürlich wissen Sie: Sind bei einem Auto die Zündkerzen defekt, wird auch der 3. oder der 17. Versuch, das Auto zu starten, nichts daran ändern, dass das Auto einfach nicht anspringt. (Da Sie kein Unmensch sind, haben Sie Ihrem Nachbarn natürlich schon nach dem 2. Fehlversuch mit seinen eigenen funktionstüch­tigen Zündkerzen ausgeholfen!)

Der Punkt, um den es hier geht ist folgender: Die Ursache der defekten Zündkerzen erzeugt bei einer Maschine immer und unfehlbar die Wirkung, dass das Auto nicht anspringt.

Betrachten wir das nun beim Menschen. Hat ein Mensch beispielsweise körperliche Misshandlungen erlebt, so ist die Wirkung der zu erwartenden Spätfolgen dieses Traumas keineswegs zu allen Zeitpunkten seines darauffolgenden Lebens dieselbe. Insgesamt mag der Mensch zwar schweren seelischen Schaden davongetragen haben, die sich in vielfältigen und zeitlich überdauernden Symptomen zeigen. Und doch gibt es selbst bei schweren Traumatisierungen durchaus Tage oder auch nur Stunden, in denen das eigene Erleben weniger eingetrübt, heller, leichter, friedvoller oder heiterer ist. Die Ursache – die körperlichen Misshandlungen – zeitigt also keineswegs die immer gleichen Wirkungen. Der jeweilige Mensch in seiner körperlich-seelisch-geistigen Verfassung entscheidet letztlich darüber, wie sich ein Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt auswirkt.

Neben diesen intraindividuellen Schwankungen im inneren Erleben mögen unsere interindividuellen Unterschiede vielleicht noch überzeugender sein: Die psychischen Auswirkungen körperlicher Misshandlungen sind bei verschiedenen Menschen durchaus unterschiedlich. Am deutlichsten zeigt sich dies vermutlich am Beispiel tibetischer Mönche und Nonnen, die der Folter durch ihre chinesischen Besatzer ausgesetzt waren. Sie zeigten hinterher keinerlei der bei einem einfachen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zu erwartenden Symptome schwerer Traumatisierungen. Ähnliches gilt auch für die ungefähr 10 Prozent aller Kinder, die Schreckliches in ihrer Kindheit erlebt haben und dennoch offenbar unversehrt geblieben und zu kompetenten, freundlichen und tatkräftigen Erwachsenen heranreifen konnten. Diese Kinder wurden die „Invincibles“, also die „Unbesiegbaren“ genannt, weil ihnen offenbar selbst schlimmste Erfahrungen nichts anhaben konnten.

Erlauben Sie mir – trotz der ernsten und tragischen Thematik – das Phänomen massiver Misshandlungen nun auch bei einem Auto zu betrachten. Sollte ihr Nachbar aus Frustration über den Kratzer, Ihr Zerlegen seines Autos und den kleinen Scherz mit den defekten Zündkerzen zum Vorschlaghammer greifen und auf ihr Fahrzeug einschlagen, so ist zu erwarten, dass es hinterher einen sehr ramponierten Eindruck voller Dellen machen wird, die sich auch nicht von alleine wieder ausbügeln werden. Die Invincible-Kinder und tibetische Mönche und Nonnen sind da aus anderem Holz geschnitzt. Sie sind zu einem Reframing, einer Bedeutungserteilung fähig, die ihnen erlaubt, sich anders als ein Auto voll und ganz zu regenerieren.

Schmidt zieht aus diesen Einsichten die Schlussfolgerung, dass es für uns Menschen nie das Ereignis allein ist, das sich gleichsam linear in einer bestimmten Wirkung fortsetzt, sondern dass der das Ereignis erlebende Mensch in entscheidender Weise mitbestimmt, wie sich ein Geschehen auswirkt. Kein äußeres Phänomen ist einfach so da, erst wir machen es zu etwas. Entscheidend ist also, wie wir uns zu etwas stellen.

Diese Einsichten finden sich bereits bei Heinz von Foerster, der die Unterscheidung zwischen von ihm so bezeichneten „trivialen“ und „nichttrivialen“ Maschinen eingeführt hat. Thure von  Uexküll, Herausgeber einer der einflussreichsten Textsammlungen zur Psychosomatischen Medizin, hat sich in seinen letzten Schriften immer wieder auf Foerster bezogen (vgl. Uexküll 2013). Triviale Maschinen, wie etwa Autos, arbeiteten nach den Regeln mechanischer Kausalität. Auf den gleichen Input (Ursache) folgt immer der gleiche Output (Wirkung). Ganz anders verhalten sich lebende Systeme, also „nicht-triviale Maschinen“ in Foersters Terminologie, bei denen der innere Systemzustand wichtig ist, der dem Input erst seine Bedeutung erteilt. Statt dem zweigliedrigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang, der für triviale Maschinen gilt, tritt hier noch ein drittes hinzu: eine aktive Bedeutungserteilung durch einen Interpretanten. Es gibt hier also keinen Input an sich, sondern der Input wird durch die Bedeutungsgebung des Empfängers erst definiert. Die Wirkung folgt dieser Bedeutungserteilung. Gut illustrieren lässt sich dieser Zusammenhang wieder anhand der Wirkung von Arzneimittelplacebos: Eine in pharmazeutischer Hinsicht wirkungslose Zuckerpille (Input) erhält genau dann dennoch eine Gesundungswirkung (Output), wenn gleichzeitig durch den Arzt beim Empfänger der Pille eine positive Erwartung in die Heilkraft des Mittels geweckt wird. Die bewusste oder unbewusste Interpretation der Dinge erschafft also bei nicht-trivialen ‚Maschinen‘ wie dem Menschen – oder auch einer einzigen Zelle – erst ihre Wirkmächtigkeit.

Man stelle sich dasselbe Geschehen mit einem Auto vor: Kein Auto mit Verbrennungsmotor würde sich fortbewegen, wenn man es mit Wasser füllte und ihm gleichzeitig von den benzinartigen Eigenschaften von Wasser vorschwärmte!

Ein weiterer gravierender Unterschied besteht darin, dass beim Menschen der häufige Gebrauch mancher Organe deren Funktionsfähigkeit deutlich verbessert. Mechanische Bauteile neigen durch häufigen Gebrauch zum Verschleiß. Dies gilt ganz sicher nicht für unser Muskel- und Skelettsystem, das durch Training und geeignete Bewegung stärker und effektiver wird. Für uns Menschen gilt: Use it or lose it. Für Maschinen gilt: The more you use it the faster you lose it.

Nichtlineare Verursachung:

Die Tätigkeit permanenter Resonanzschleifen macht es schließlich bei komplexen Systemen unmöglich, eine eindeutige Ursache für ein Symptom zu benennen. Das heißt, dass nichtlineare Multikausalität im Zusammenhang mit den Entstehungsbedingungen unserer menschlichen Symptomatiken eher die Regel ist. Der unmittelbar verständliche Wunsch, die eine entscheidende Ursache für unsere Probleme zu finden, scheint daher eher fragwürdig zu sein.

Wohl aber können wir, wenn wir Ursachenforschung betreiben, uns möglichen Hintergründen unserer Symptomatiken annähern, wobei der entscheidende Gradmesser für die Gültigkeit unserer Hypothesen unser inneres Stimmigkeitserleben ist. Wie stimmig oder wie wahr fühlt sich die Hypothese an, mit der ich mir meine Symptome erkläre?  Allerdings gibt es selbst hier ein wichtiges CAVE: Inneres Stimmigkeitserleben für sich allein ist noch kein ausreichendes Kriterium für den Wahrheitsgehalt einer Vermutung, die wir über die Ursachen unserer Symptome anstellen. Wir könnten in einem Wahn befangen sein und unseren Zugang zu diesem intuitiven und emotional getönten Erleben der Wahrheit unseres Selbst verloren haben, eben weil die starren und fixierten Ideen unserer Wahnvorstellungen das innere Stimmigkeitserleben übertönen, so dass wir in die Irre geleitet werden. Das geschieht gar nicht so selten und es gibt überzeugende Argumente dafür, dass die extreme Ausprägung starrer Ideenbildungen in den psychotischen Wahngebilden eines schizophrenen Menschen (oder eines charismatischen Despoten oder Sektenführers etc.) nur die Spitze des Eisbergs ist und wir alle mehr oder minder daran kranken, der Welt unsere Vorstellungen und Theorien aufzuzwingen. Was wir als Wirklichkeit erleben ist unsere Meinung über die Wirklichkeit, keineswegs die Wirklichkeit selbst.

Allerdings haben wir in unserer langen Evolutionsgeschichte relativ gute Annäherungen an die Wirklichkeit entwickelt, so dass wir uns einigermaßen gut darin bewegen können. Verblendung aus Unwissenheit ist für Buddha nicht von ungefähr eines der drei wesentlichen Geistesgifte – die anderen beiden sind Hass und Anhaftung -, an denen wir Menschen leiden. Nebenbei wird hier auch das enorme Potential unserer geistigen Vorstellungskraft sichtbar, körperliche Empfindungsbot­schaften und Intuitionen gleichsam zu übertönen und zu überstimmen. An dieser Stelle hilft uns letztlich nur das offene Gespräch mit einem – oder besser noch: mehreren – Gegenüber(n), mit dem (mit denen) wir unsere Ideen und Annahmen reflektieren und so einer Realitätsprü­fung unterziehen.

 

Was folgt daraus für unser Denken über den Körper-Geist-Zusammenhang?

Dazu möchte ich die bereits erwähnte Wissenschaftlerin Candace Pert zu Wort kommen lassen. Frau Pert wandte sich in der Entwicklung ihres eigenen Denkens – enttäuscht vom Wissenschaftsbetrieb und den darin herrschenden Spielregeln und aufgrund der Erkenntnisse ihrer eigenen Forschungen – mehr und mehr von klassischen Denkmodellen in der Medizin ab, die ihr zu mechanistisch und reduktionistisch erschienen. In der Folge wurde sie zu einer Leitfigur der Alternativmedizin.

 

In ihrem lesenswerten Buch „Moleküle der Gefühle“ von 1997 lässt sie ihre Freundin Nancy die entscheidenden Unterschiede zwischen dem alten medizinischen Paradigma mit seiner Maschinenmetapher und dem neuen Denken so ausdrücken:

 

„Ich bin nicht mehr eine Maschine, die aus einem Körper besteht, der von einem Gehirn herumkommandiert wird und auf Gedeih und Verderb von einer elektrischen Ladung abhängig ist, die mein Herz am Schlagen und meine Synapsen am Knistern hält. Jetzt darf ich mich als intelligentes System verstehen, das massiv und rasch für einen simultanen Informationsaustausch zwischen Geist und Körper sorgt. Meine Zellen sprechen buchstäblich miteinander und mein Gehirn beteiligt sich eifrig an diesem Gespräch.“ (Pert, S. 401)

 

Nancy fährt fort und benennt die Konsequenzen dieser neuen Sichtweise: „Und nun, da ich weiß, dass mein Körper seine eigene Weisheit besitzt, muss ich eine neue Art der Verantwortung beweisen. Ich darf mich nicht mehr wie eine bewusstlose Maschine verhalten und darauf warten, dass mich ein Mechaniker – ein Arzt – repariert. Jetzt habe ich die Möglichkeit, von mir aus bewusst in das System einzugreifen, mich aktiv an meiner Heilung zu beteiligen. Ich habe bei der Herstellung der Gesundheit, die ich erlebe, mehr Einfluss und mehr Verantwortung als die bewusstlose Maschine, für die ich mich früher gehalten habe.“ (Pert, 402)

 

 

Anmerkung (1): Das Zitat aus Lissa Rankins Buch (Rankin 2014) zur Placeboforschung verweist auf die folgenden Studien:

 

1 Wechsler, Michel E. et al. (2011): Active Albuterol or Placebo, Sham Acupuncture or No Intervention in Asthma, in:“New England Journal of Medicone, Bd. 365 (14.07.2011), 119-126

 

2 de Groot, Femke, M. et al. (2011): Headache: The Placebo Effects in the Control Groups in Randomized Clinical Trials. An Analysis of Systematic Reviews, in: Journal of Manipulative and Physiological Therapeutics, Bd. 34, Nr. 5, 297-305

 

3 Talbot, Margaret (2000): The Placebo Prescription, in: New York Times Magazine, 09.01.2000

 

4 Binder, H.J. et al. (1978): Cimetidine in the Treatment of Duodenal Ulcer: A Multicenter Double Blind Study, in: Gastroenterology, Bd.74, 380-388

 

5 Wang, Shirley S. (2012): Why Placebos work Wonders, in: Wall Street Journal, 10. Januar 2012

 

 

6 Evans, F.J. (1985): Expectancy, Therapeutic Instructions and the Placebo Response, in: White, Leonard et al. (1985, Hrsg): Placebo: Theory, Research and Mechanisms, New:York: Guilford Press

 

7 Levine, J.D. et al. (1981): Analgesic Responses to Morphine and Placebo in Individuals with Postoperative Pain, in: Pain, Bd. 10, Nr. 3 379-389

 

8 Kirsch, Irving (2010): The Emperors New Drugs: Exploding the Antidepressant Myth, New York: Basic Books

 

 

Zitierte und weiterführende Literatur:

 

Bartens, Werner (2012): Heillose Zustände, München: Droemer

 

Bauer, Joachim (2004): Das Gedächtnis des Körpers, München Zürich: Piper

 

Blech, Jörg: (2013): Der heilende Geist, in: “Der Spiegel“, Heft 21, 18.05.13

 

Boucher, Sandy (2010): Im Herzen des Feuers, Irdana Verlag

 

Boyesen, Gerda (1987) Über den Körper die Seele heilen, München: Kösel

 

Chopra, Deepak (1998): Die sieben geistigen Gesetze des Erfolgs, München: Heyne

 

Damasio, Antonio (2011): Selbst ist der Mensch. Körper, Geist und die Entstehung des menschlichen Bewusstseins, München: Siedler

 

Dau-Schmidt, Marianne (2020): Welchen Einfluss hat das psychische Wohlbefinden auf unser Immunsystem, in: Psychotherapeutenjournal, 2/2020, 122-127

 

Davidson, Richard & Begley, Sharon (2012) Warum wir fühlen, wie wir fühlen. Wie die Gehirnstruktur unsere Emotionen bestimmt – und wie wir darauf Einfluss nehmen können, München: Arkana

 

Dispenza, Joe (2018): Du bist das Placebo. Bewußtsein wird Materie, Burgrain: Koha Vlg.

 

Groddeck, Georg (1988): Krankheit als Symbol, Frankfurt: Fischer tb

 

Illich, Ivan (1975): Die Enteignung der Gesundheit. Medical Nemesis, Reinbek: Rowohlt

 

Hansen, Ernil (2023): Worte wie Medizin, Begleitung ängstlicher Patienten bei medizinischen Eingriffen, Vortrag auf dem Kongress der MEG, 23.-26.03.23 in Kassel

 

Kolassa, Iris (2022): Vortrag über Traumata auf dem Jahreskongress der Milton-Erickson-Gesellschaft, März 2022 (Onlineveranstaltung)

 

LeShan, Lawrence (1993): Diagnose Krebs. Wendepunkt und Neubeginn, Stuttgart: Klett-Cotta

 

Lipton, Bruce (2007): Intelligente Zellen, Burgrain: Koha Vlg.

 

Osho (2008): Emotional bewußt, München Goldmann (Das Zitat ist auf S. 89)

 

Peck, M. Scott (1986): Der wunderbare Weg, Eine neue Psychologie der Liebe und des spirituellen Wachstums, München: Goldmann

 

Pert, Candace (1999): Moleküle der Gefühle. Körper, Geist und Emotionen, Reinbek: Rowohlt

 

Rankin, Lissa (2014): Mind over Medicine. Warum Gedanken oft stärker sind als Medizin. Wissenschaftliche Beweise für die Selbstheilungskraft, München: Kösel

 

Reich, Wilhelm (1949): Charakteranalyse, Frankfurt: Fischer tb

 

Schubert, Christian (2011): Psychoneuroimmunologie und Psychotherapie, Stuttgart: Schattauer Vlg.

 

Simonton, Carl O. (1995): Auf dem Wege der Besserung, Reinbek: Rowohlt Vlg.

 

Spork, Peter (2009): Der zweite Code. Epigenetik oder: Wie wir unser Erbgut steuern können, Reinbek: Rowohlt Vlg.

 

van der Kolk, Bessel (2015): Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann, Lichtenau: G. B. Probst Verlag

 

von Hirschhausen, Eckart (2016): Wunder wirken Wunder, Reinbek: Rowohlt

 

von Uexküll, Thure (2013): Psychosomatische Medizin (7. Auflage), München: Urban und Fischer

 

Wickert, Martin (2020): Warum gerade ich? Der Umgang mit subjektiven Krankheitstheorien,  https://www.3sat.de/wissen/tele-akademie/tele-akademie-martin-wickert-100.html

 

Williges, Reinhold (2017): Somato-Psychotherapie zur behavioralen und strukturellen Modifizierung psychosomatischer Risikofaktoren – eine salutogenetische Option, Vortrag auf dem Kongress ‚Salutogenese bei Krebs (Audio-CD), Müllheim: Auditorium Netzwerk