11. Hingabe zulassen
„Jede muskuläre Verkrampfung enthält die Geschichte und den Sinn ihrer Entstehung.“
„Auf die Frage, wo das Unbewusste sitze, sagt Freud, es befinde sich im Gehirn und in den Nerven. (…) Und ich sage: Es ist überall, in jeder Zelle, im Darmsystem, auch im Gewebepanzer und zwar in Form von chronischen Überbleibseln, Residualen. Dort setzt es sich fest, wenn man Gefühle und Konflikte nicht äußern durfte und sie verdrängen musste.“
Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Artikels:
Ausgehend von eigenen Erfahrungen mit dem Bodyflow, einer Körpertherapietechnik, bei der autonome Körperprozesse gleichsam hingebungsvoll entdeckt, erkundet und ausgedrückt werden können, gehe ich kurz auf die Geschichte dieser ebenso schlichten wie kraftvollen Übung ein. Es folgen Gedanken zur Polarität von Selbsthingabe als ein Weg zum Erfahren der eigenen Wahrheit und Selbstbeherrschung als ein Weg zum Erreichen wertvoller Ziele. Schließlich wird eine Körpertechnik des Arztes G. Schmidt vorgestellt, die er „Problemlösungsgymnastik“ nennt und die es uns ermöglicht, die eigene Verfügungsmacht über belastende unwillkürlich ablaufende innere Prozesse zu erhöhen.
Wie bereits erwähnt waren meine ersten (und großartigen) Therapie-Lehrer Bijo St. Clair und Michael Plesse, bei denen ich reichlich Erfahrungen mit Körpertechniken, Neoreichinanischen und Biodynamischen Massagen, Ritualarbeit, Tantra und Energietechniken sammeln konnte. In diesen Seminaren habe ich zu Beginn der 80iger Jahre des letzten Jahrhunderts Ideen und Übungen kennengelernt, die Zugang zu anderen Erfahrungsräumen öffneten als ich es aus der Konventionalität und Enge meiner schwäbischen Heimat gewohnt war. Das Meiste fühlte sich neu und frisch an, ungewohnt und überraschend. Als besonders beeindruckend habe ich die Technik des ‚Bodyflow’ erlebt. Dabei stellte man sich zusammen mit der Hälfte der Gruppe in die Mitte eines von der zweiten Hälfte der Gruppe gebildeten Schutzkreises und bekam etwa folgende Instruktion: „Lass deinen Körper geschehen … folge Deinen Impulsen, ohne etwas zu forcieren … bleibe bei Dir … gib Dir Raum … gib Deiner Stimme Raum, aber forciere nichts…“ Das war alles. Und gerade dieses Wenige an Instruktion ließ so viel Raum, um seine eigenen spontanen und authentischen Lebensbewegungen und Töne und auch die inneren Widerstände gegen diese freie Bewegung zu erkunden. Nach kurzer Zeit war die Gruppe ein chaotisch anmutender Haufen von menschlichen Leibern, die sich am Boden wälzten, sich eigenwilligen Körperzuckungen hingaben und meistens wenig melodische Laute in mehr oder minder hoher Lautstärke von sich gaben. Im weiteren Verlauf der Übung spielten die Gruppenleiter meist ein zur emotionalen Atmosphäre passendes Musikstück dazu, das die Intensität der Erfahrung noch erhöhte. Nach dem Bodyflow fühlte man sich in aller Regel gut. Man fühlte sich einfach wieder mehr eins mit sich.
Man konnte bei dieser Übung gar nicht vermeiden, zu erkennen, dass der Körper offenbar eigene Impulse hatte, von denen das bewusste Denken vor Beginn der Übung keine Ahnung hatte. Außerdem war offensichtlich, dass der Körper ein Aufbewahrungsort für vergangene Situationen war, die man wieder erleben und vielleicht auch zum ersten Mal mit emotionalem Ausdruck durchleben konnte, sofern man sich einfach den spontan sich im eigenen Inneren entwickelnden Körperbewegungen hingab. Natürlich konnte man in dieser Übung ‚etwas machen’, also einem ausgedachten Plan folgen, doch fehlte der Erfahrung dann die heilsame Frische und Verbundenheit mit und Nähe zu sich selbst. Nicht dem spontanen Impuls zu folgen, sondern ‚etwas zu machen’, fühlte sich hinterher fad und hohl an. Das gab einem kaum etwas und daher war es klüger, innerlich offen zu sein und abzuwarten, was da kommen mochte. Die eigene Erfahrung lehrte, dass es gerade die Hingabe an das spontane körperliche Geschehen war, die dem Prozess letztlich seine Fülle und sein Wohlgefühl verlieh, auch wenn sich das anfangs und zwischenzeitlich gar nicht so angefühlt haben mag.
Später habe ich erfahren, dass die Idee des Bodyflow nicht ganz so neu war, wie ich zunächst dachte. Beim 2. Weltkongress der Psychotherapeuten 1994 in Hamburg erzählte etwa der renommierte Jungianische Psychologe James Hillman (1926-2011), dass er sich in seiner Ausbildung am Züricher C. G. Jung – Institut Anfang der sechziger Jahre auch zuweilen „auf dem Boden gewälzt“ habe, offenbar mit ähnlichen Selbsterfahrungs-Experimenten beschäftigt wie wir 20 Jahre später.
Und bei einem weiteren meiner Lehrer erfuhr ich, dass diese Übung schon seit Jahrtausenden von innere Klarheit suchenden Menschen praktiziert wird. Der tibetische Lama Tenzin Wangyal Rinpoche (* 1961) steht in der Tradition der uralten tibetischen Volksreligion des Bön, die sich im 8. Jahrhundert mit buddhistischen Gedanken vermischt hat, jedoch auch noch sehr viele schamanische Praktiken aufbewahrt hat. Er erzählte, dass seit Urzeiten die dem Bön verbundenen Menschen des Himalaya sich zu sogenannten Rushen-Exerzitien zurückziehen konnten. Dabei taten sie im Wesentlichen nichts Anderes als wir im Bodyflow, dies allerdings allein in der Einsamkeit hoher Berge und über Tage und Wochen hinweg, immer wieder neu, bis sie größere innere Klarheit in einer für sie wichtigen Frage erzielt hatten. Wieder einmal gilt also: Es gibt nichts Neues unter der Sonne!
Hingabe an das, was im Körper bereits da ist und leben will – das ist der Schlüssel dieser Technik. Es geht darum, nichts zu erfinden oder künstlich draufsetzen, weil das nur wieder in Selbstentfremdung führen würde. Solch eine Haltung widerspricht wohl dem aktuellen Zeitgeist, der auf die Kontrolle des Körpers (Sport!), seiner kosmetischen oder sonstigen (Botox! Tatoos!) „Verschönerung“ oder auch die chirurgische „Korrektur“ des Körpers unter der Maßgabe eines narzisstisch besetzten Idealbilds ausgerichtet ist. Wer von diesem Zeitgeist infiziert ist – und wer ist das eigentlich nicht? – der möge sich einfach fragen, ob er sich mit all diesen Korrekturen immer noch als sich selbst fühlt und erlebt. Wenn man die Frage authentisch mit Ja beantworten kann, ist vermutlich alles in Ordnung.
Und natürlich ist Körperbeherrschung auch eine sehr nützliche Kompetenz. Wer von seinen Impulsen stets überschwemmt wird und gar nicht in der Lage ist, seine inneren Bedürfnisse, Gefühle und Handlungsimpulse zu steuern, der hat schlechte Karten. Ich erinnere mich beispielsweise an eine Frau, die unter der Drucksituation eines Bewerbungsgesprächs für eine neue Arbeitsstelle offenbar gar nicht anders konnte als von ihrem sexuellen Missbrauch als Kind zu erzählen. Sie hatte mit ihrer Bewerbung natürlich keinen Erfolg. In einer Prüfungssituation von Angst überschwemmt zu werden und geistigen Blackout zu erleben, ist dem eigenen Vorankommen sicher auch nicht förderlich. Um ein letztes Beispiel anzuführen: Seinen Suchtneigungen nachzugeben bringt einen auch nicht weiter, es sei denn, man möchte seinem Ableben näherkommen.
Es geht also um eine gute Ausgewogenheit zwischen Selbsthingabe und Selbstbeherrschung. Nur ein flexibler Stand ist ein fester Stand. Sich hingeben können ist der Schlüssel zum Erleben seiner eigenen emotionalen Wahrheit wie auch zur Intensität möglicher Gipfelerfahrungen wie im sexuellen Orgasmus. Sich beherrschen können ist der Weg zu persönlicher Reife, zu ökonomischem Erfolg und ethischer Integrität.
Schließen möchte ich diesen Text mit einer äußerst nützlichen Übung eines weiteren Lehrers von mir. Diese Übung können Sie immer dann einsetzen, wenn sie mehr Kontrolle über einen unwillkürlich ablaufenden Prozess in sich selbst haben wollen. Der kreative Kopf hinter dieser Übung ist der Arzt, Klinikleiter und systemische Familien- und Hypnotherapeut Dr. Gunther Schmidt (*1945), bei dem ich viele Kongressvorträge gehört und Seminare besucht habe. G. Schmidt, der als Begründer eines hypnosystemischen Ansatzes in der Psychotherapie gilt und zu all seinen sonstigen Tätigkeiten auch noch das Heidelberger Milton Erickson Institut leitet, ist für mich der derzeit innovativste, ganzheitlichste und produktivste Therapielehrer in Deutschland, dessen geistige Klarheit, fachliche Kompetenz, intellektuelle Brillanz und bei aller außergewöhnlich hohen fachlichen Expertise sehr egalitär ausgerichteten Menschenfreundlichkeit sich zu einer therapeutischen Herangehensweise verbunden haben, die für mich einzigartig ist.
Schmidt nennt diese Übung „Problemlösungsgymnastik“. Man kann diese Technik auch als eine schöne pantomimische Illustration der Möglichkeiten des Hin- und Herschwingens zwischen den Polen von Hingabe und Kontrolle verstehen.
Ein Ausgangspunkt dieser Übung ist die Erfahrung von G. Schmidt, dass die schnellsten und nachhaltigsten Veränderungen von Problemen und Symptomen über die „Körperkoordination“ zu erzielen sind.
Er erzählt dazu in seinen Vorträgen gerne – und sehr, sehr lustig – die Geschichte, wie er sich als junger systemisch und familientherapeutisch ausgebildeter Assistenzarzt in einer klassisch medizinisch orientierten Klinik zu behaupten suchte. Er habe immer wieder das Gespräch mit dem ärztlichen Klinikdirektor gesucht, um einige unbefriedigende Dinge mit ihm zu „klären“. Er habe im Nachhinein festgestellt, dass er im Gespräch zwar alles gesagt hatte, was er sich vorgenommen hatte zu sagen, doch offenbar mit der piepsigen Stimme und der Durchsetzungskraft eines kleinen Jungen, so dass der Klinikdirektor leicht in eine gönnerhafte Haltung gegenüber dem „jungen Kollegen“ gehen konnte, ohne weiter groß auf seine inhaltlichen Beschwerden und Anregungen einzugehen. Schmidt habe danach erkannt, dass er in dieser Stresssituation offenbar „in den Altersfahrstuhl“ eingestiegen war und zu dem Jungen in sich regrediert war, der sich früher zuweilen ohnmächtig, klein und hilflos gefühlt hatte.
Daraufhin tat er folgendes: Er nahm bewusst die Körperhaltung und die Stimme des kleinen Jungen in sich ein. Anschließend ließ er seinen Körper die für das Gespräch mit dem Klinikchef gewünschte erwachsene Körperhaltung und Stimme finden und ausprobieren. Zwischen den beiden Haltungen und Stimmlagen wechselte er nun immer hin und her, um so im Laufe der Zeit beide aneinander zu koppeln. Das wiederholte er, wie er erzählte, bis zu 60 Mal, auch kurz vor der nächsten Unterredung mit dem Klinikleiter. In diesem Gespräch erlebte er nun selbst, was dieses Training bewirkt hatte: Zwar stieg er anfangs wieder kurz in den Altersfahrstuhl und wurde innerlich zum Jungen, doch bemerkte er nach einiger Zeit, dass er wie „von innen empor gehoben wurde“ zu der anderen erwachsenen und kompetenten Haltung, die er eingeübt hatte. Er hatte über sein Training also bewirkt, dass die seelische Erfahrung des Jungen in ihm zu einer Art automatisierten Aufrufbewegung für seine erwachsene Kompetenzhaltung geworden war! Er konnte sich danach ganz auf die Inhalte des Gesprächs konzentrieren und sich gegenüber der Autoritätsperson des Klinikchefs wesentlich besser behaupten.
Beachten Sie bitte, dass G. Schmidt nicht nur die Kompetenzhaltung einübte, wie dies andere Lehrer vorschlagen, wenn sie anregen, in Anforderungssituation eine Haltung der Stärke und fester Selbstbehauptungskraft einzunehmen und dies zuvor üben lassen. Das kann man machen, doch übergeht diese Übungslogik die Macht unwillkürlicher Prozesse, die zu ignorieren oft nicht weiterhilft.
Der Hintergrund von Schmidt‘s Strategie ist hingegen, die Tatsache anzuerkennen, dass wir im Gehirn nichts löschen können und dass frühere kindliche Denk- Fühl- und Handlungsweisen, die wir in unserer Entwicklung überwunden zu haben glauben, doch stets als Erlebnismöglichkeiten vorhanden bleiben. Statt das nun zu ignorieren nutzt Schmidt in genialer Weise diesen Zusammenhang. Die den erwachsenen Ausdruck eigener Leistungskompetenzen bedrohende Möglichkeit regressiven Erlebens in einer Stresssituation wird so über das Training zu einer Ausholbewegung für eben diesen Kompetenzausdruck. Das heißt, diese Technik erlaubt es, die Verfügungsgewalt über Symptome und Prozesse zu verstärken, die ansonsten unwillkürlich ablaufen.
„Problemlösungsgymnastik“ nach Dr. Gunther Schmidt
Wenn Sie die Technik ausprobieren wollen, dann schaffen Sie zunächst einen Raum, in dem sie ungestört üben können. Konzentrieren sie sich auf ein Problem das sie bearbeiten wollen.
Sie werden feststellen, dass sich das Zulassen der Wahrnehmung dieses Problems, das Erleiden des Problems sofort auf ihre Körperkoordination auswirkt und ihre Atmung, Mimik, Gestik und gesamte Körperhaltung verändert.
Bei einem Kongress-Workshop 2010 leitete G. Schmidt die Übung der „Problemlösungsgymnastik“ selbst so an:
„Und da lade ich Sie jetzt ein, das mal willentlich zu machen. So extra vergrößert übertrieben, wie in einer Pantomime. Und wie groß fühlen sich dann noch? Und wie alt fühlen sie sich dann?
Erlauben Sie sich, das Problem pantomimisch vergrößert darzustellen. Was geschieht mit Kopf und Gesicht, was mit dem Nacken, wo geht der Blick in? Was ist mit Armen, Händen, Beinen, Bauch und Brust?
Indem sie das willentlich machen, bekommen Sie Verfügungsgewalt über das Problem.
Ihr Körper weiß immer, was die Lösungswege wären, selbst wenn ihr Bewusstsein das noch nicht weiß.
Und ihr Körper kennt auch die gewünschte Alternative. Und wenn Sie jetzt Ihren Körper fragen, wie sieht denn die gewünschte Alternative aus?
Erlauben sie ihrem Körper, die gewünschte Alternative pantomimisch darzustellen.
Machen Sie jetzt aus dem Stummfilm einen Tonfilm. Gesund und ‚Sound‘ haben dieselbe Wortwurzel. Das hat viel mit Schwingung zu tun. Damit bekommt das alles noch viel mehr sinnliche Intensität.
Geben Sie wieder rein ins Problemmuster und nehmen Sie den Problemsound dazu. Was passt da? Und probieren Sie das aus. Machen wir es einmal so extrem …
Und wenn sie jetzt ihren Körper fragen, was wäre denn die gewünschte Alternative?“ (Ende des auszugsweisen Transkripts der Live-Anleitung durch G. Schmidt; die Übung geht jedoch noch weiter:)
Nachdem sie so die beiden gegensätzlichen Haltungen und Stimmen entwickelt haben, erlauben Sie sich, erst die eine und dann die andere Körperhaltung und Stimmlage einzunehmen und pantomimisch vergrößert darzustellen.
Wechseln Sie hin und her und machen Sie das so oft sie wollen.
Sie werden erleben, dass sie vielleicht in der Zukunft erstmal weiter in ihr Problemerleben hineinrutschen mögen, ihnen diese Übung jedoch dabei geholfen haben wird, das Problemerleben auch ganz automatisch und von alleine schnell wieder zu verlassen und in ihrer tatsächlichen erwachsenen Kompetenz anzukommen.
Wenn Sie also mehr Verfügungsgewalt über ansonsten unbewußt und unwillkürlich ablaufende Prozesse in sich wollen, dann probieren Sie doch mal diese ausgezeichnete Übung! Oder gehen Sie gleich direkt zu einem Seminar von Gunther Schmidt.
Literaturempfehlungen:
- Boyesen, Gerda, Leudesdorff, Claudia, Santner, Christoph (1995): Von der Lust am Heilen, München: Kösel, S. 82
- Reich, W. (1942/1981): Die Entdeckung des Orgons I. Die Funktion des Orgasmus, Frankfurt: Fischer, S. 227
- Schmidt, Gunther (2010): Ganzkörperliche Ideomotorik (Embodiment-Priming) als Königsweg für die optimale Kooperation mit dem Unbewußten… 3 CDs, Mühlheim: Auditorium Netzwerk. (Der Übungsausschnitt wird anhand eines eigenen auszugsweisen Transkripts der Seminar-CD im Live-O-Ton von G. Schmidt auf dem MEG-Kongress 2010 in Bad Kissingen wiedergegeben.)