2. Symptome sind Lösungen!
„Es ist der Geist, der sich den Körper baut.“
„There is a crack in everything, that’s how the light gets in.“
Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Artikels:
Frühkindliche Traumata gehen mit einer höheren Erkrankungswahrscheinlichkeit im Erwachsenenalter einher. Für diese Behauptung werden einige Belege genannt. Symptome sind Lösungen, zumindest Lösungsversuche. Daher verdienen Sie unsere Achtung und Wertschätzung. Ein „Vernichtungsfeldzug“ gegen das Symptom übergeht und zerstört das darin enthaltene Wissen und schwächt uns dadurch.
In den 90-iger Jahren des letzten Jahrhunderts führten Vincent Felitti, Robert Anda et al. eine große Studie in den USA durch, an der insgesamt 17421 Patienten (von 25000 angefragten) des Gesundheitsdienstleisters Kaiser Permanente – zu der Zeit „der weltweit größte Anbieter medizinischer Versorgungsprogramme“ (van der Kolk (2015), S. 175) – teilnahmen. In dieser Studie wurden unter anderem die Häufigkeiten kindlicher Traumata wie körperliche Misshandlungen, sexuelle Missbrauchserfahrungen etc. abgefragt und deren Auswirkungen auf die Gesundheit des späteren Erwachsenen untersucht. Die Studie kam erstens zu dem Ergebnis, dass Misshandlungen, Missbrauch und Vernachlässigung etc. in der Kindheit sehr viel häufiger geschehen als bis dahin vermutet. Bei Misshandlungen ergab sich beispielsweise eine Auftretenshäufigkeit von etwa 25 Prozent, d.h. etwa ein Viertel aller amerikanischen Kinder durchlitten in ihrer Kindheit körperliche Übergriffe.
Die Ergebnisse dieser sogenannten ACE-Studie (von Adversive Childhood Experiences) belegten jedoch nicht nur das epidemische Ausmaß von Kindheitstraumata sondern lieferten zweitens auch starke Belege dafür, dass sich diese Kindheitstraumata sehr negativ auf die spätere Gesundheit des Erwachsenen auswirkten und beispielsweise die durchschnittlich zu erwartende Lebensdauer reduzierten oder die Wahrscheinlichkeit, an Krebs oder Emphysemen oder auch Depressionen (um nur einige Beispiele zu nennen) zu erkranken, deutlich erhöhten.
Der Harvard-Mediziner, Professor für Psychiatrie und Traumaforscher Bessel van der Kolk hat diese Zusammenhänge in seinem ausgezeichneten und hochinteressanten Buch „Verkörperter Schrecken“ (2015; S. 175 ff) in großer Klarheit beschrieben. Auch der Ordinarius für Psychiatrie an der Uni Zürich und (im Jahre 2014) Direktor der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der Uniklinik Zürich, Erich Seifritz, kommt zusammen mit seinem Mitautor, dem Neurobiologen Hans R. Olpe in einem spannenden Buch über den aktuellen Forschungsstand zu Stress und seinen Folgen zu einem ähnlichen Schluss: „Zusammenfassend kann man festhalten, dass eine wachsende Anzahl von Studien und Fachpersonen darauf hinweist, dass neben Depressionen, Angstzuständen oder Persönlichkeitsstörungen vom Borderline-Typ auch zahlreiche körperliche Erkrankungen ihren Ursprung in der frühkindlichen Phase [Hervorhebg. im Original] haben können, wobei sich diese mitunter erst viele Jahre oder gar Jahrzehnte später manifestieren, wenn auch noch äußere Belastungsfaktoren hinzukommen.“ (Olpe & Seifritz (2014), S. 73).
Bessel von der Kolk weist in seinem bedeutenden Trauma-Buch nun auf einen weiteren Zusammenhang hin, der uns hier besonders interessant erscheint. Die Forschergruppe der ACE-Studie kommt zu dem Schluss, dass viele Erwachsene das fortwirkende Leiden an ihren schwierigen Kindheitserfahrungen beispielsweise mit Hilfe von Suchtmitteln bekämpften. Sie nannten dies „Adaptationen [wie Rauchen, Alkoholkonsum, Drogenkonsum, und Fettleibigkeit]“ (zit. bei van der Kolk, S. 180). Diese ‚Adaptationen‘ konnten trotz der erheblichen damit einher gehenden Gesundheitsgefährdungen von den Betroffenen „erstaunlich schwer“ (ebd.) aufgegeben werden , weil sie laut den häufigen Kommentaren der Patienten eben auch deutliche Vorteile mit sich bringen würden. Die ACE- Forschergruppe resümiert, dass „das Problem eine Lösung ist“ (ebd.). Van der Kolk zitiert das Beispiel einer übergewichtigen Frau: „Eine vergewaltigte Frau erklärt Felitti: „Übergewicht zu haben bedeutet, dass ich nicht beachtet werde, und genau das ist wichtig für mich.““ (van der Kolk, S. 179). Felitti zog aus seinen Untersuchungen im Rahmen der ACE-Forschungen die Schlussfolgerung , dass viele an Adipositas leidende Patienten und Patientinnen ihre Korpulenz unbewusst als Schild gegen unerwünschte sexuelle Aufmerksamkeit oder als eine Form der Verteidigung gegen mögliche körperliche Angriffe benutzen, und daß viele von ihnen sexuell oder körperlich als Kinder misshandelt wurden.
Probleme sind in dieser Sicht also Lösungen, zumindest Lösungsversuche!
Gilt das nicht auch für all unsere funktionellen Beschwerden und Symptome?
In der Regel sehen wir unsere Symptome – ein Schmerz, ein Unwohlsein, eine Einschränkung oder eben auch unser Suchtverhalten u.ä. – als etwas Lästiges und etwas, das wir so schnell wie möglich loswerden wollen. Wir betrachten unsere Symptome als Feinde, die es zu bekämpfen gilt. Für diesen Vernichtungskampf nutzen wir die Arsenale der Pharmazie, der Strahlenheilkunde oder der Chirurgie.
Was aber wäre, wenn der Standpunkt stimmiger wäre, dass unsere (körperlichen) Symptome sich der kreativen Intelligenz und Weisheit des evolutionär gewachsenen Wunderwerks verdanken, das wir Körper nennen? Was würde es für einen Unterschied machen, wenn diese Symptome gleichsam Schöpfungen wären, die das bestmögliche darstellen, das unser unbewusstes Gesamtwissen, unser ‚Geist‘, unter bestimmten gegebenen Rahmenbedingungen ersinnen und erbauen konnte? Wenn unsere Symptome also unsere beste unbewusste Antwort, unser bislang bester Lösungsversuch für die Gesamtheit der Bedingungen wäre, die unser Leben bestimmen? Symptome sind in dieser Sichtweise kreative Schöpfungen unseres unbewusst tätigen Genies, um mit Konflikten, die auf einer verborgenen, tieferen Ebene liegen, klar zu kommen. Als Lösungsversuche verdienen Sie zunächst und vor allem unseren Respekt. Dieser Gedanke findet sich in vielen modernen Therapieformen wie beispielsweise der Hypnotherapie oder der Systemischen Familientherapie.
Was folgt aus dieser Einsicht? Würde sich unsere Haltung zu uns selbst und unseren Symptomen, die wir als Schwächen, Fehler und Defekte sehen – als seien wir damit auch schwach, fehlerhaft und defizient – nicht zumindest geringfügig wandeln hin zu größerer Achtung vor uns selbst und unserem Körper? Und würde uns diese Sichtweise nicht stimulieren, unseren Körper – und auch uns selbst mit all unseren Aspekten- als Lösungssucher zu würdigen und aktiv nach besseren Lösungen Ausschau zu halten und dadurch innen und/oder außen Veränderungen anzustreben, die dem Gedeihen unseres Körpers und unseres Lebens dienlicher wären? Würde dieses Denkmodell also nicht eher unserer Reifung und unserem menschlichen Wachstum dienen als das gängige Denkmodell vom Symptom als Defekt, der schnell auszumerzen ist, das uns auf das Niveau eines mechanischen Gegenstands wie etwa eines Autos oder Toasters oder Rasenmähers herabwürdigt, bei dem ein Bauteil kaputt gegangen ist, das dann von außen zu ersetzen wäre?
Wie fühlt sich diese neue Sicht der Dinge – Symptome sind Lösungen! Zumindest Lösungsversuche – für Sie an? Falls Sie damit experimentieren wollen und falls Sie an irgendeinem Symptom leiden sollten, könnten Sie sich die folgende Frage stellen und offen sein für Antworten, die ganz von alleine auftauchen:
Wenn Ihr Symptom eine Lösung bzw. ein Lösungsversuch für eines Ihrer Lebensprobleme wäre, welches Problem könnte das sein?
Literaturempfehlungen:
- van der Kolk, Bessel (2015): Verkörperter Schrecken. Traumaspuren in Gehirn, Geist und Körper und wie man sie heilen kann, Lichtenau: G. B. Probst Verlag
- Olpe, Hans Rudolf & Seifritz, Erich (2014): Bis er uns umbringt? Wie Stress die Gesundheit attackiert – und wie wir uns schützen können, Bern: Hans Huber