4. Natur heilt

„Es ist das Sein, das Wesen selbst, das Therapeut ist und heilt.“ (Gerda Boyesen)

Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Artikels:

Medicus curat, natura sanat. Jede Heilung ist letztlich eine Selbstheilung. Die Psychologin und Körperpsychotherapeutin Gerda Boyesen benennt die „Nähe zum Sein“ als letztendlichen therapeutischen Wirkfaktor. Krankheitssymptome zeigen an, dass unsere bisherigen Lösungen für unsere Lebensprobleme an Grenzen stoßen. Wir verfügen jedoch von Haus aus über einen brillanten Inneren Arzt, der auf eine reichhaltige natürliche innere Apotheke zurückgreifen kann. Eine einfache Technik zur Kommunikation mit diesem Inneren Arzt wird vorgestellt.

Schon Hippokrates, der griechische Gründervater der Medizin, dessen Namen durch den bekannten Eid unauflöslich mit den ethischen Geboten ärztlichen Handelns verknüpft ist, soll den Gedanken geäußert haben, dass es letztlich stets die dem Menschen innewohnende Natur ist, die für Heilung sorgt. Medicus curat, natura sanat: Der Arzt kümmert sich und sorgt für den Patienten (medicus curat), es ist jedoch die Natur im Menschen, die für die eigentliche Heilung sorgt (natura sanat). Die Aufgabe des Arztes besteht also im Wesentlichen darin, für Rahmenbedingungen zu sorgen, in denen Heilung von alleine geschehen kann.

Deutlich geworden ist mir diese Grundhaltung bei der norwegischen Psychologin und Psychotherapeutin Gerda Boyesen (1922-2005), die in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine eigene körperpsychotherapeutische Schule begründete, die so genannte Biodynamische Psychologie. In ihrer Ausbildung vermittelte Gerda Boyesen, die in ihrer Zeit wohl die bekannteste Körperpsychotherapeutin war, eine Grundhaltung großer Demut und der Achtung vor der Individualität des Patienten. Ihre bedingungslos akzeptierende therapeutische Haltung hat mich sehr inspiriert und ist auch heute noch eine meiner Leitsterne, an denen ich mich orientiere.

Das folgende Zitat fasst diese Haltung kurz so zusammen: „Die wichtigsten Grundprinzipien meiner Arbeit sind: Menschlichkeit, Liebe, keine Kritik, keine Verurteilung. Schon die Atmosphäre von Liebe allein bewirkt, dass die Psychoperistaltik in Gang kommt.“ (Boyesen, G. et al. (2) S. 118). Eine ihrer wesentlichen Grundannahmen war, dass wir in unserem wesenhaften Kern gesund sind und dass es uns innewohnende Kräfte gibt, die uns unablässig in Richtung größerer Realisierung dieser Gesundheit drängen.

Das im Titel angegebene Zitat von Gerda fügt sich nahtlos in die von Hippokrates begründete heilerische Sichtweise ein. Angesichts der Werbeversprechen der Pharmaindustrie könnte man zuweilen meinen, dass diese Erkenntnis in den Hintergrund getreten ist, daher ist es wichtig, zu betonen, dass im Grunde jede Heilung eine Selbstheilung ist. Am offensichtlichsten ist dies bei der Wundheilung: Man kann beispielsweise eine Schnittwunde reinigen, sie mit Jod desinfizieren, eine Wundsalbe auftragen, ein schützendes Pflaster darüber decken und so alles tun, um gute Rahmenbedingungen für die Heilung zu schaffen. Die eigentliche Heilung geschieht jedoch stets von alleine – durch eine unterhalb unserer Bewusstseinsschwelle sorgfältig abgestimmte Abfolge zahlreicher physiologischer Prozesse – ohne dass unser bewusster Verstand in irgendeiner Weise eingreifen müsste.

„Jede Wundheilung ist eine Wunderheilung.“
(Eckart von Hirschhausen)

Wir profitieren hier von einer erstaunlichen evolutionär gewachsenen Fähigkeit unseres beseelten Körpers, die uns so sehr vertraut ist, dass wir sie als selbstverständlich betrachten. Doch nichts davon ist selbstverständlich. Im Gegenteil ist hier ein seit Jahrtausenden sich stetig weiter entwickelndes unbewusstes Heilungswissen aktiv, das seinen Job auf wundersame Weise autonom und ohne unser bewusstes Zutun erledigt. Der Satz von Eckart von Hirschhausen: „Jede Wundheilung ist eine Wunderheilung“ (von Hirschhausen, S. 244) bringt den Grundgedanken dieses Mosaiksteins elegant auf den Punkt.

Man kann also sagen, dass wir über einen Inneren Heiler oder Arzt verfügen, der auf einen reichen Fundus an historisch gewachsenen, altbewährten Heilungsstrategien und ein Vorratslager körpereigener Arzneien zurückgreifen kann.

Die Tatsache, dass wir ein Krankheitssymptom entwickelt haben, lehrt uns, dass unsere Selbstheilungskräfte an Grenzen gestoßen sind und wir gehalten sind, geeignete Korrekturen, etwa in unserer Lebensführung, vorzunehmen. Wir können nun einen Arzt aufsuchen, ihn um eine Diagnosestellung bitten, seinen Rat erfragen und die von ihm verordneten Medikamente einnehmen. Doch wir können darüber hinaus auch unseren Inneren Arzt befragen, von dem wir sicher annehmen dürfen, dass er uns sehr gut kennt und sehr bemüht ist, unser Wohlbefinden wieder herzustellen. Wir können die eigene Vorstellungskraft nutzen, um dieser inneren wissenden Heilerinstanz gleichsam eine Gestalt zu geben und sie um Antworten in Bezug auf unsere Symptome zu bitten. Aus diesen Antworten lassen sich Hinweise und Anregungen für den eigenen weiteren Heilungsweg ableiten.

Eine konkrete Ausformulierung dieser Grundidee habe ich bei einem weiteren meiner Lehrer kennengelernt, dem überaus kompetenten, kreativen und erfrischend klaren Diplom-Psychologen und Leiter des Hamburger Milton Erickson Instituts Ortwin Meiss. Im Folgenden stelle ich Ihnen diese nützliche Technik zur Kommunikation mit dem Inneren Arzt vor. Ich formuliere hier (in Anlehnung an Formulierungen von Ortwin Meiss) eine einfache Anleitung, die natürlich individuell variiert werden kann. Es ist sinnvoll, sich dafür eine Zeit einzurichten, in der man ungestört ist und sich erstmal auf sich selbst einstimmt, zur Ruhe kommt und seine Aufmerksamkeit dann allmählich nach innen lenkt.

Eine Technik zur Kommunikation mit dem inneren Arzt

„Wir wissen, dass wir über innere Selbstheilungskräfte verfügen, die letztlich unsere Heilung bewirken … und dies auch schon so oft in unserem Leben getan haben … gerade so als hätten wir eine weise innere Instanz in uns … einen inneren Arzt, der für unser Wohlergehen sorgt … und weil das so ist, kannst Du Dir erlauben, diesem Inneren Arzt mal eine Gestalt zu geben … und offen sein dafür, was ganz von alleine auftaucht … Dir Zeit lassen, diese Person erstmal in Ruhe zu betrachten … und wenn Du noch genauer erkennen könntest, was für eine Person das ist, wie siehst Du die denn … und erlaube Dir erstmal, sie zu begrüßen … und vielleicht magst Du dieser Person schon zu Beginn dafür danken, dass sie in Deinem Leben für Dich da war … (oder vielleicht auch nicht und das ist völlig o.k.) … und jetzt aber auch dieses Symptom vorhanden ist, das Dir Mühe macht …und Du noch nicht weißt, was es Dir sagen will …

… und welche Fragen hast Du in Bezug auf Deine Heilung … stelle diese Fragen … und sei aufmerksam, welche Antwort Du erhältst … und lass Dir Zeit, die Antwort zu verstehen … und wenn Du jetzt all das, was Du bewusst oder unbewusst erfahren hast, noch mal sorgfältig bedenkst … kann es sein, dass weitere Fragen auftauchen, die Du stellen magst … oder Du tief in Deinem Inneren weißt, dass Du etwas Wesentliches erfahren hast … für die Heilung … und kannst Dich überraschen lassen, wie Du das umsetzen wirst … und wie sich das in Deinem Alltag auswirken wird … und Dir dann erlauben, Dich zu bedanken und Dich für heute zu verabschieden …“

Eine schöne und ausführliche Variante dieser Arbeit mit dem inneren Arzt stammt vom Begründer und langjährigen ärztlichen Direktor der naturkundlich und psychosomatisch orientierten Hufeland-Klinik in Bad Mergentheim, Dr. Wolfgang Wöppel. Die CD „Ich werde heil“ mit seiner (christlich orientierten) Meditationsanleitung ist über die Hufeland-Klinik erhältlich.

Literaturempfehlungen:

  • Boyesen, Gerda (1987): Über den Körper die Seele heilen. Biodynamische Psychologie und Psychotherapie, München: Kösel. Das Titelzitat findet sich dort auf Seite 111.
  • Boyesen, Gerda, Leudesdorff, Claudia, Santner, Christoph (1995): Von der Lust am Heilen, München: Kösel
  • Goette, Sabine (2016): Selbstheilung. Warum Gesundheit im Kopf beginnt und was die Wissenschaft darüber weiß, München: Droemer Knaur Vlg. (Die gebundene Ausgabe des Buchs erschien 2013 unter dem Titel „Die Heilkraft des inneren Arztes“.)
  • von Hirschhausen, Eckart (2016): Wunder wirken Wunder. Wie Medizin und Magie uns heilen, Reinbek: Rowohlt
  • Wöppel, Wolfgang (?): Ich werde heil. Zwiesprache mit der inneren Kraft. Wie entfalte ich die Heilkraft meiner Seele, Audio-CD, Bad Mergentheim: Hufeland Klinik, Löffelstelzer Str. 1-3 · 97980 Bad Mergentheim
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