10. Annehmen was ist

„Was ist darf sein. Was sein darf kann sich verändern.“ (Ein therapeutisches Mantra)

Zusammenfassung der Kernaussagen dieses Artikels:

Insbesondere bei unseren schon länger bestehenden (chronischen) Symptomen ist es nützlich und wichtig, sich eine innere Haltung der Akzeptanz zu erarbeiten. Diese Haltung trägt zur Wiederherstellung unseres inneren Friedens bei und hilft den Boden für unsere Heilung zu bereiten. Die auf Vernichtung abzielende Bekämpfungsstrategie gegen das Symptom verschlimmert das Problem oft und verkennt wesentliche Aspekte der Symptombildung. Wenn wir von Akzeptanz zu liebevoller Selbstaussöhnung mit uns voranschreiten machen wir sehr bedeutsame Reifungsschritte und werden stärker und stärker.

Letztes Jahr war ein guter Freund von mir in der Psychosomatischen Klinik Heiligenfeld in Bad Kissingen. Diese Klinik genießt auch bei meinen Patienten einen guten Ruf, daher empfehle ich sie gerne weiter. Mein Freund kehrte nach einigen Wochen denn auch sehr inspiriert, voller Energie und Tatkraft zurück und erzählte unter anderem, dass sich die oben zitierten beiden kurzen Sätze bei Patienten und Therapeuten in Heiligenfeld großer Beliebtheit erfreut hätten.

Das ist nicht verwunderlich, denn die Sätze enthalten eine tiefe Wahrheit. Insbesondere der Satz: „Was sein darf kann sich verändern“ verweist auf eine Grunderfahrung, die die meisten Therapeuten sicher bestätigen können: Was ich innerlich annehmen und bejahen kann, hat eine gute Chance, sich in günstiger Weise zu verändern. Dagegen verschärft der Kampf gegen ein Symptom dieses Problem in aller Regel noch mehr.

Fehlendes Anerkennen von dem, wie es nun einmal in diesem Moment ist, blockiert geradezu einen konstruktiven Lösungsansatz. Es ist, als sage man, man wolle nicht, dass es in einem gegebenen Augenblick regnet, während es doch just dann regnet. Natürlich kann man sich für die Zukunft Sonnenschein wünschen, aber zu verleugnen, was im jetzigen Moment eine Tatsache ist, erscheint wie ein aussichtloser Kampf, der nur in die Irre führen kann.

Schlimmer noch: Der Kampf gegen das Symptom ignoriert, dass das Symptom der bisher beste Lösungsversuch für meine Lebensprobleme gewesen ist. Er bekämpft auch die darin gebundene schöpferische Intelligenz, die das Symptom mit gutem Grund geschaffen hat und aufrechterhält und sich natürlich auch gegen einen möglichen Vernichtungsfeldzug unsererseits zu wappnen und zu wehren weiß. Feindschaft und Ablehnung gegenüber dem Symptom führt daher meist zu einer inneren Verhärtung der Fronten und trägt zur Stabilisierung der Mauern bei, die das Symptom einschließen. Das ist keineswegs nur eine Metapher: Sehr oft sind mir in meiner therapeutischen Arbeit bei der tieferen Erkundung von Problemfeldern mit meinen Klienten innerseelische Bilder von ausgemergelten, einsamen und verlassenen Elendsgestalten begegnet, offenkundig Selbstanteilen dieser Person, die oft schon Jahrzehntelang weggeschlossen in tiefen, kalten und dunklen Verliesen ausharrten und sich ängstlich vor forschenden Augen verbargen, weil sie die Unbarmherzigkeit unserer Ablehnung und Verachtung fürchteten. Das bedeutet, dass im Kern unseres Symptoms ein Opferanteil von uns gefangen ist, der unsere Ablehnung und unseren Kampf gegen das Symptom gleichsam als von ihm ebenso erwartete wie gefürchtete Fortführung einer Ausgrenzung, Entwertung und Verurteilung erlebt, deren Opfer er schon in der Vergangenheit war. So bleibt alles beim schlechten Alten und vielleicht fühlt sich unser Opferanteil sogar noch etwas hoffnungsloser und einsamer als zuvor. Wollen wir den Weg der Heilung gehen dann führt uns die Haltung der Bekämpfung des Symptoms nicht weiter!

Machen Sie sich folgendes klar: Es gibt keinen inneren Terroristen, der uns schaden oder gar zerstören will. Im Gegenteil: „Krankheit ist ein Freund. Sie kommt zu dir, wenn du Deinen Weg verloren hast.“ So sagt es die Heilerin Teresa Schuhl (Schuhl 2014, Klappentext). Die in uns vorhandene Seelenkraft zielt letztlich stets auf Entwicklung hin zur Ganzheit und Vervollkommnung ab. Wir sind im Kern gesund und etwas in uns strebt stets zurück (oder: vorwärts, je nach Blickwinkel) zu unserer wesenhafter Ganzheit.

Akzeptanz bedeutet zunächst einfach sachlich anzuerkennen, was eh schon da ist. Darüber hinaus ist hier aber auch ein positives Annehmen und Bejahen gemeint. Das ist bei der inneren Auseinandersetzung mit einem Symptom, das uns über längere Zeit begleitet, anfangs sicher nicht zu erwarten. Da die Symptomseite in der Regel mit unangenehmen, belastenden, störenden, einschränkenden, schmerzlichen, existenziell gefährdenden usw. Aspekten verbunden ist, ist es ein völlig natürlicher menschlicher Impuls, zunächst einmal mit starker Abwehr zu reagieren. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es eine Seite in uns gibt, die möchte, dass das Symptom so schnell wie möglich wieder verschwindet. Es ist wichtig, auch dieser Seite zuzuhören und ihr Raum zu geben. (Diesen Gedanken habe ich schon früh, zum ersten Mal in der Biodynamik kennen gelernt. Da hieß das Prinzip: „Make friend with the resistance.“)

Fragen Sie sich zum Beispiel: Welche Gefühle hat diese Seite? (Wut, Angst, Trauer, Scham, Verzweiflung ….?) Was ist für diese Seite so schlimm am Symptom? Was täte dieser Seite gut, auch wenn das Symptom erstmal bestehen bleibt?

Doch danach ist es sinnvoll, sich zu fragen, ob es nicht einen Versuch wert wäre, das unnatürlich erscheinende auszuprobieren und allmählich mehr innere Akzeptanz für das Symptom aufzubauen. Buddha hat uns das Kalkül dieses Vorschlags mit der Metapher der zwei Pfeile nahegebracht: Hat man ein Symptom, so ist es, als wäre man von einem Pfeil getroffen worden. Bekämpft man sich selbst nun an der Stelle des Symptoms, so ist das, als würde man einen zweiten Pfeil darauf abschießen und sich zusätzlich verletzen. Ist das klug?

Das was uns Schmerzen bereitet erst einmal anzunehmen und eine innere Akzeptanz dazu aufzubauen scheint ein unnatürlicher Weg zu sein. Doch bedenken Sie: Jede Kraft erzeugt eine Gegenkraft. Die als „Feind“ etikettierte Symptomseite in uns reagiert auf unsere Attacke in der Regel mit verstärkter Gegenwehr. Um ein Beispiel aus dem Alltag zu nehmen: Vielleicht ist Ihnen auch schon einmal passiert, dass Sie auf einem wissentlich falschen Standpunkt beharrt haben, einfach deshalb, weil ihr Gegenüber mit Nachdruck und zornig erhobener Stimme darauf bestanden hat, dass Sie im Unrecht seien? Schlägt uns massive persönliche Ablehnung entgegen, stellen wir uns oft quer, auch wenn wir im Hinblick auf eine Sachfrage tatsächlich einer Meinung sein mögen.

Stattdessen Akzeptanz zu erlernen ist der Weg, mit dem wir zu etwas mehr innerem Frieden zurückfinden und keine Energie in einem sinnlosen und destruktiven Kampf vergeuden. Und darin ruht die Hoffnung auf die Veränderung unseres Symptoms. Das ist der entscheidende Grund, warum die Arbeit an unserer inneren Aussöhnung mit dem, was ist, so bedeutsam ist.

Der Benediktiner Anselm Grün erzählt ein schönes Beispiel für die Macht dieser Akzeptanz, die wirksam sein kann, sogar dann, wenn sie sich auf andere Menschen als uns selbst bezieht. Ein Ehepaar habe jahrelang für den alkoholkranken Vater der Frau des Paares gebetet, damit er von seinem Alkoholmissbrauch loskäme. Aber alle Mühe sei umsonst gewesen. „Erst als sie den Mut aufbrachten, für den Vater zu danken, dass er da ist, dass er so ist, wie er ist, ermöglichten sie ihm, dass er sich ändern konnte. Weil er nicht mehr den unbewußten Anspruch an sich spürte, sich ändern zu müssen, konnte er sich ändern.“ (Grün (1997), S. 44). Das bestätigt auch ein Ergebnis der Forschung über die Wirksamkeit von Gebeten: Stärker noch als das Gebet, das ein bestimmtes Ergebnis erzielen will, wirkt das sogenannte meditative Gebet, das aus der akzeptierenden Haltung des „Dein Wille geschehe“ praktiziert wird. „Menschen, die das meditative Gebet praktizieren, sind glücklicher und fühlen sich Gott näher als Menschen, die um Vergebung oder Beistand beten.“ (Lyubomirsky , Sonja (2008), S. 247)

Was sein darf kann sich verändern!

Wie stellen wir das nun her, dieses: „Es darf sein“? Mein Vorschlag ist: Geben Sie innerlich die Erlaubnis, dass das Symptom da sein darf. Fügen Sie der rauen Wirklichkeit, dass das Symptom eh schon da ist, einfach ihre ehrliche Erlaubnis hinzu. Tun Sie dies so aufrichtig wie Sie das können. Schon dieser freundliche Akt hat die Kraft, etwas in ihnen zu verwandeln. Lassen Sie ihre Erlaubnis in ihrer Vorstellung dahin wandern, wo das Problem im Körper, in der Seele, in ihrem Geist sitzt. Sagen Sie innerlich zu ihrem Symptom: Du darfst da sein. Du gehörst zu mir. Ich weiß zwar noch nicht, warum und wofür Du da bist, aber ich heiße dich willkommen.

So werden Sie ein freundlicher Gastgeber für diesen (vermeintlich) ungeladenen Gast, der sich da in Ihnen breitgemacht hat. Wenn wir so denken und fühlen erweitern wir unseren Handlungsspielraum. Vom inneren Richter und Henker des Symptoms wandeln wir uns zu einem zugewandten Gastgeber, der aus der Not eine Tugend macht, den zunächst verstörenden Gast annimmt und ihn mit Interesse kennen lernt. Gelingt uns dieser Schritt, so zeigt das schlicht an, dass wir sehr viel stärker geworden sind.

In gewisser Weise war es unser Ich in Zusammenarbeit mit unserem schöpferischen Unbewußten, die das Symptom erschaffen haben. Dieses Ich braucht Weitung, Neugestaltung, Wandel, um das Symptom und die darin enthaltene Energie und Information überwinden, d.h. integrieren und transformieren zu können. Finden wir zu einer Haltung des Annehmens, dann sind wir ein gutes Stück des Heilungswegs bereits gegangen und unser Ich ist schon ein anderes geworden.

Dabei gibt es keine Garantie dafür, dass am Ende des Weges Heilung wartet. Es ist ähnlich wie in den stolzen Zeilen aus einem recht bekannten Gedicht von Rainer Maria Rilke:

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.“

Auf dem Weg hin zu größerer Annahme von dem was ist wachsen wir und werden reifer und bewusster. Das ist tatsächlich unvermeidlich. Machen Sie es analog zu dem Ich in Rilkes Gedicht und lassen Sie die Ringe ihrer Akzeptanz mehr und mehr sich ausdehnen, so dass immer mehr Gefühle und Verhaltensweisen und Menschen eingehüllt und geborgen sind im warmen Licht ihrer Akzeptanz. Auch wenn wir den letzten Schritt hin zur Genesung vielleicht nicht vollbringen, so war unser Weg doch ein lohnender, denn je mehr wir auf diesem Weg gelernt haben, anzunehmen und zu bejahen, desto angenehmer wird unser Leben werden.

Wir können so über das Anerkennen, was ist und das positive Bejahen von dem, was ist, sogar noch hinausgehen. In vielen kleinen und großen weiteren Schritten können wir heranreifen zu einer Person, die in der Lage ist, das Symptom gleichsam liebevoll zu umarmen. In dieser Atmosphäre der bedingungslosen Annahme können sogar unsere abgewehrtesten und in die tiefste Dunkelheit verbannten inneren Anteile aufatmen und sich allmählich wieder für eine Reintegration öffnen. Gelingt uns eine solche Haltung umfassender Aussöhnung und liebevoller Selbstannahme, dann haben wir Großes für uns selbst erreicht und sind zu einem sehr fruchtbaren Boden für unsere Heilung geworden. Können Sie zu einer Person werden, die die Größe hat, ihren vermeintlich schwächsten, widerlichsten, schlimmsten Anteil liebevoll zu umarmen? Wenn Sie das können, werden Sie die wahre Stärke dieses Teils erkennen!

Literaturempfehlungen:

  • Grün, Anselm (1997): 50 Engel für das Jahr. Ein Inspirationsbuch, Freiburg: Herder Vlg.
  • Lyubomirsky , Sonja (2008): Glücklich sein. Warum Sie es in der Hand haben, zufrieden zu leben, Frankfurt/New York: Campus
  • Schuhl, Teresa (2014): Wüstenmädchen. Die Heilkunst der starken Frauen, Norderstedt: Books on Demand